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Alice Schwarzer und der Dinosaurier im Wohnzimmer

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djadmoros über Alice Schwarzer und die Tabuisierung des sexuellen Missbrauchs durch Frauen

Der Film Shades of Grey zeigt irritierend genüsslich die Folgen eines sexuellen Missbrauchs eines Jungen durch eine erwachsene Frau. djadamoros hat zum Artikel dazu, der in der vergangenen Woche erschien, einen längeren Kommentar veröffentlicht. Der Kommentar kontrastiert die Darstellung des sexuellen Missbrauchs durch Frauen bei Alice Schwarzer mit Zitaten aus dem Bericht eines Mannes, der als Junge von seiner Mutter sexuelle missbraucht worden war.

Dieser Kommentar wurde wiederum kommentiert vom Lotosritter, der das Thema des sexuellen Missbrauchs durch Frauen als Mokita bezeichnet – als Thema, das allgemein bekannt sei, über das aber niemand spreche.

Schon 1978 hatte Louise Armstrong in ihrem Buch Kiss Daddy Goodnight, das Erzählungen weiblicher Opfer des sexuellen Missbrauchs sammelte, die These aufgestellt, dass tatsächlich nicht der sexuelle Missbrauch tabuisiert sei – sondern das Sprechen darüber. Das ist zu zugespitzt. Demnach würde es als ganz normal angesehen werden, wenn etwa Eltern ihre Kinder sexuell missbrauchen – es dürfte nur nicht darüber gesprochen werden.

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Richtig aber ist, dass das Thema mit starken Gesprächstabus belegt ist. Weder Armstrong noch Schwarzer aber kommen auch nur auf die Idee, dass diese Tabus auch den sexuellen Missbrauch durch Frauen betreffen könnten. Hier sind die Betroffenen also gleichsam mit einem tabuisierten Tabu konfrontiert: Nicht nur ist es kaum möglich, über diesen Missbrauch zu sprechen – es kann auch kaum zum Thema gemacht werden, dass nicht darüber gesprochen werden kann.

In Familientherapien gibt es einen Begriff, mit dem beispielsweise der Alkoholismus eines Familienmitglieds bezeichnet wird: den des Dinosauriers im Wohnzimmer. Da sitzt ein erschreckendes, gefährliches Monster im Wohnzimmer herum, das niemand übersehen kann – aber alle Beteiligten tun so, als ob  damit im Großen und Ganzen eigentlich alles ganz normal sei. Bei Shades of Grey ist der sexuelle Missbrauch des Jungen durch eine Erwachsene Frau solch ein Dinosaurier: Er trägt und motiviert die ganze Handlung und ihren Kitzel, wird aber kaum einmal ernsthaft zum Thema.

Wie solch ein Dinosaurier ins Wohnzimmer gelangt – und wie es möglich ist, dass darüber nicht geredet wird: Das zeigt djadmoros am Beispiel Alice Schwarzers. L.S.

 

Missbrauch? Welcher Missbrauch?

Zunächst einmal bringt Schwarzer das Thema des weiblichen Masochismus aus der Gefahrenzone: »Doch in Wahrheit ist „Shades of Grey“ keine Geschichte über weiblichen Masochismus, sondern eine über männlichen Sadismus.« Der männliche Sadismus ist das »Feuer«, mit dem Frauen spielen können, wenn sie es rechtzeitig wieder zu löschen wissen, »bevor es echt ernst wird«.

Damit emanzipiert sich Ana Steele vom weiblichen Masochismus, denn dieser ist ein Produkt patriarchaler Unterdrückung, »der Versuch der Seele …, real erlittene Erniedrigung und Schmerz umzumünzen und lustvoll zu besetzen«. Das entspricht Schwarzers Haltung zu sadomasochistischen Vorlieben und Praktiken: Sie sind im Prinzip pervers, aber man kann sich ihnen mit Milde nähern, wenn man sie in therapeutischer Perspektive betrachtet. Und da Sadomasochismus ihr zufolge im Kern nur als Pathologie verstanden werden kann, registriert sie zumindest in einem Nebensatz auch, dass der männliche Protagonist eine »schwierige Kindheit« hatte.

Natürlich ist für sie auch die öffentliche Aufmerksamkeit für das BDSM-Thema eine männliche Angelegenheit. Den phänomenalen Erfolg des Buches bei Frauen blendet sie aus – sie hat eine andere Erklärung:

Wie aber lässt sich dann die Fülle von SM-Darstellungen in Medien, Literatur, Film und Kunst erklären? Sie scheint das Wunschdenken gewisser Männer zu sein. Die, die sich in ihren Chefsesseln oder Hausherr-Positionen von emanzipierten Frauen bedroht sehen. Die, die Frauen eben lieber auf allen Vieren imaginieren als ihren aufrechten Gang zu akzeptieren.«

Nachdem das also in erwartbarer Weise geklärt ist, erstreckt sich ihr Lob schließlich auch auf die Autorin:

Da erlaubt sich die 48-jährige Autorin, Mutter zweier Kinder, ihren Liebesträumen und sexuellen Fantasien freien Lauf zu lassen. Gleichzeitig achtet sie penibel darauf, dass ihre Protagonistin nicht den Überblick verliert, den Kopf auf den Schultern behält.«

Wer – wie ich – der Meinung ist, dass Alice Schwarzer in analytischer Hinsicht noch nie besonders helle war, darf sich darin bestätigt fühlen: Schwarzer nimmt die Erzählung von »Shades of Grey« beim Wort, »at face value«. Die von der Autorin in Anspruch genommenen Voraussetzungen für die Erzählbarkeit dieser Geschichte in dieser Form wird von Schwarzer nicht weiter beachtet – insbesondere auch nicht, dass die Art der »schwierigen Kindheit« des männlichen Protagonisten nicht vom Inhalt der erzählten Geschichte getrennt werden kann.

Dass es sich um den sexuellen Missbrauch eines Jugendlichen durch eine ältere Frau handelt, wird von Schwarzer zur Gänze unterschlagen. Es passt nicht in ihr ideologisches Schema, und es hat bei ihr gewissermaßen Tradition:

Schwarzers erstes, epochemachendes Buch von 1975, »Der kleine Unterschied«, ist eine kommentierte Sammlung von Interviews mit Frauen, von denen eines einen Fall sexuellen Mißbrauchs einer Tochter durch ihren Vater thematisiert: Im zweiten der Protokolle des »Kleinen Unterschieds« stellt sich im Verlauf des Gesprächs heraus, dass »Renate A., 33 Jahre, Hausfrau und Putzfrau, fünf Kinder, Ehemann Hilfsarbeiter« im Alter von elf oder zwölf Jahren von ihrem Vater über einige Jahre hinweg sexuell missbraucht worden ist. Die Tochter hatte dieses Trauma als »sexuelle Aufklärung« rationalisiert: »Ich weiß nur noch, dass er mich aufgeklärt hat. Aber richtig, gleich mit Kontakt, und so, dass ich geblutet hab.« (Schwarzer 2002, S. 40)

Als Schwarzer nachhakt, stellt sich heraus, dass es sich tatsächlich um einen länger anhaltenden sexuellen Missbrauch gehandelt hat:

Der Vater nötigte das kleine Mädchen mit einer Mischung aus Drohungen und Lockungen, mit Schlägen und Geschenken dazu, es sich gefallen zu lassen und zu schweigen.« (a.a.O.)

Mit fünfzehn Jahren gelingt es der Tochter, aus dieser Missbrauchsbeziehung auszubrechen, indem sie sie der Mutter schildert, die den Vater daraufhin anzeigt. Im Kommentar zu diesem Protokoll weist Schwarzer darauf hin, dass es dennoch die Tochter ist, die sich ein schlechtes Gewissen macht, weil der Vater zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden ist.

Nicht der Vater, sondern das ausgelieferte kleine Mädchen hat deswegen noch ein schlechtes Gewissen – es wird ihr von ihrer Umwelt aufgezwungen, die ihr die ›Schande‹ zuschreibt, nicht dem Vater. Sie ist die Nutte.« (a.a.O., S. 50 f.)

Im Bedürfnis, diese Skandalisierung noch zu steigern, schreibt Schwarzer sodann:

Man stelle sich den Fall umgekehrt vor: Mutter missbraucht jahrelang Sohn. Niemand hätte den Jungen verachtet, die Mutter aber wäre reif für die Psychiatrische gewesen – aus der man bekanntlich schwerer wieder herauskommt als aus dem Gefängnis.« (a.a.O., S. 51)

 

Was erzählt der Typ denn da über seine Mutter?

Als Alice Schwarzer dies im Jahre 1975 schreibt, ist Andreas Marquardt, geboren 1956, ein Kampfsportler und gewalttätiger Zuhälter und damit ein Inbegriff des von Schwarzer angeprangerten »Patriarchats«, bereits neun Jahre lang, vom siebten bis zum sechzehnten Lebensjahr, von seiner Mutter sexuell missbraucht worden. Eine Chance, dafür auch nur Glauben zu finden, geschweige denn seine Mutter juristisch zur Rechenschaft zu ziehen und ins Gefängnis zu bringen, hatte er zu dieser Zeit nie, selbst nach der Jahrtausendwende war es für ihn noch schwierig genug. Seine Mutter hat er als Erwachsener, drei Wochen vor ihrem Tod, noch damit konfrontiert. Zu einer juristischen Aufarbeitung kam es darum aber nicht mehr.

Was Alice Schwarzer hier behauptet, könnte daher von der Realität nicht weiter entfernt sein: die Drohungen von Marquardts Mutter, ihren Sohn »ins Heim zu stecken« oder ihn der Lüge zu bezichtigen, waren, wenn man die Resultate vergleicht, wesentlich effektiver, als sie es bei dem geschilderten Missbrauch der Tochter durch ihren Vater gewesen war:

Na, was meinst Du wohl, wem man mehr glaubt, einer Mutter oder dem missratenen Sohn, der nichts anderes als seinen Sport im Kopf hat? Sieh dich vor, mein Bürschchen! Was du vorhast, ist Verrat. Plapperst du auch nur ein Sterbenswörtchen aus, gebe ich dich weg, ich sorge dafür, dass du ins Heim kommst.« (Marquardt 2015, S. 246)

Anders als das Mädchen hatte dieser Junge damals, in denselben 1970er Jahren, nicht die geringste Chance, mit 15 Jahren eine Anschuldigung auszusprechen und seine Mutter zur Rechenschaft ziehen zu lassen. Marquardts Mutter wäre nicht »in die Psychiatrische« gekommen – die Gesellschaft hätte jede Anklage gegen sie als Ungeheuerlichkeit »gegenüber der eigenen Mutter« empfunden – und damit den anklagenden Sohn verachtet. Nicht für das, was ihm widerfahren ist, sondern dafür, dass er ausgesprochen hätte, was ihm widerfahren ist – etwa so wie noch in den 1990er Jahren, als er wegen seiner Gewaltexzesse gegen Frauen vor Gericht stand:

Als der Richter mich fragte, was ich zu meiner Verteidigung zu sagen hätte, erzählte ich die Geschichte mit Mutter. Vermutlich reagierte er genauso skeptisch wie die meisten Leute im Saal, das war an den verständnislosen Blicken abzulesen. Was erzählt der Typ denn da über seine Mutter? So was macht eine Mutter doch nicht! Alle schauten mich an, als würde ich mich mit einer Gruselgeschichte interessant machen wollen.« (Marquardt 2015, S. 215 f.)

Der Unterschied zwischen beiden Fällen besteht in einem gesellschaftlichen Tabu, welches den sexuellen Missbrauch durch Mütter für unmöglich erklärt, während dem Mann dasselbe ganz selbstverständlich zugetraut wird – ein Tabu, das Schwarzer nicht nur nicht hinterfragt, sondern aktiv reproduziert. Man könnte nun einwenden, dass das eben nicht dem damaligen Stand des Wissens entsprach und es darum unfair sei, Schwarzer diesen Vorwurf zu machen. Tatsächlich ist es aber bis zum heutigen Tag schwer, dieses Tabu zu überwinden, und zwar wesentlich darum, weil eine feministische Ideologie tatkräftig zu seiner Befestigung beigetragen hat.

Und diese Ideologie reproduziert Schwarzer bis zum heutigen Tag – hier am Gegenstand von »Shades of Grey«. Im Schutze der Ideologie, das Frauen »so etwas« niemals tun könnten und würden, reproduzieren und sanktionieren hier zwei Frauen, Alice Schwarzer und Erika Leonard [E.L. James, die Autorin von Shades of Grey, L.S.], die Struktur sexuellen Mißbrauchs von Jungs durch Frauen.

Zitate aus:

Marquardt, Andreas; Lemke, Jürgen (2007, 2015), Härte. Mein Weg aus dem Teufelskreis der Gewalt. Mit einem neuen Nachwort von Jürgen Lemke. Berlin: Ullstein

Schwarzer, Alice (1975, 2002), Der kleine Unterschied und seine großen Folgen. Frauen über sich. Beginn einer Befreiung. Frankfurt a. M.: Fischer

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Vom Übersehen des Menschen-Möglichen

Der Lotosritter kommentiert diesen Kommentar von djadamoros:

Wir glauben, daß viele von uns der Störung unterliegen, das Menschen-Mögliche zu übersehen, weil wir uns von dem Menschen-Unmöglichen lähmen lassen“, hat Ruth Cohn einmal geschrieben. (Ruth Cohn und Anita Ockel 1981)“ – Quelle: Frauen als Täterinnen, Michelle Elliott (Hrg.), Ruhnmark 1995

Man sah nicht hin, oder nur dort hin, wo es opportun erschien, um seine eigene Geschichte zu stricken und beim damals angesagten Marsch durch die Institutionen an die Fetttöpfe zu gelangen. Obgleich das Literaturverzeichnis in dem Buch auch zeigt, dass es zu Beginn der 80er Jahre bereits genügend Literatur zum Thema sexuellen Missbrauchs durch Frauen gab und das tabuisierte Thema schon länger bekannt und untersucht worden war.

Ja, es ist ein Verdienst von Schwarzer und den Feministen, dass dieses Thema weiter bis heute tabuisiert wurde. So halten sich manche Feministen zwar zugute, dass sie die päderastischen Bestrebungen innerhalb der Grünen Bewegung skandalisierten und damit den Missbrauch an Jungen öffentlich machten. Doch es ging dabei um Männer als Täter und nicht um weibliche Täter. Das Thema ist bis heute Mokita. Es ist unanständig, darüber zu sprechen.

Die Feststellung von Marquardt war damals unter Jugendlichen allbekannt. Kein sexuell missbrauchter Junge, egal von Mann oder Frau, hätte es gewagt, sich an das Jugendamt zu wenden; denn dann wäre er bis zu seinem 21. Lebensjahr in einem Erziehungsheim verschwunden.


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