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Zerstören Genderprogramme das Gesellschaftliche?

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Unter dem Titel „Angriffe auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt“ hat der Bildungsphilosoph Matthias Burchardt in seinem politischen Essay über eine von links wie rechts geschürte Identitätspolitik geschrieben, die das, was Gesellschaft ausmacht, zerstört. Der folgende Beitrag setzt sich mit den zentralen Aussagen von Burchardt auseinander.

Matthias Burchardt und das Online-Portal Rubikon

Laut dem Online-Magazin Rubikon ist Matthias Burchardt Akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie an der Universität Köln und außerdem stellvertretender Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. Jüngst hat er einen Aufsatz unter dem Titel „G8 als Baustein eines Reformputsches gegen die humanistische Bildungskultur“ im Buch „weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden“ veröffentlicht. Burchardt kritisiert ferner fortwährend die PISA- und Bologna-Bildungsreformen.

Der hier besprochene Essay von Burchardt ist im Online-Portal „Rubikon“ erschienen, das erst seit Anfang April 2017 neu in Betrieb ist. Das Online-Portal ist vermutlich politisch links angesiedelt, es dürfte jedoch nicht eine Mainstream-Linke (SPD und Grüne/Bündnis 90) bedienen, ebenso die postmoderne bzw. poststruktualistische Linke wird dort größtenteils nicht auf ihre Kosten kommen, und die marxistische Linke wird vermutlich auch nicht  bloß Freude an dieser Seite haben. Das Zielpublikum ist folglich eher eine unorthodoxe Linke, wie sie beispielsweise auf Telepolis, den NachDenkSeiten oder KenFM anzutreffen ist, die weniger theoretisch und ideologisch agieren, sondern vielmehr praktische journalistische Arbeit zur Verfügung stellen bzw. das Zeitgeschehen analysieren und kommentieren. Der Beirat des Rubikon besteht u.a. aus Daniele Ganser (Friedensforscher), Rainer Mausfeld (Kognitionsforscher), Daniela Dahn (Journalistin & Schriftstellerin), Konstantin Wecker (Liedermacher), Sven Böttcher (Schriftsteller und Drehbuchautor), Karin Leukefeld (Publizistin), Mathias Bröckers (Autor) etc.

Die Kernthese im Essay von Burchardt lautet wie folgt:

Auf den ersten Blick scheinen Welten zwischen dem völkischen Konzept der Identitären Rechten und der Wertschätzung von Vielfalt in der linken Identitätspolitik zu liegen. Dennoch gibt es bedenkliche Gemeinsamkeiten: Beide Identitätsmodelle beuten legitime Bedürfnisse von Menschen aus, um demokratische Gesellschaft zu untergraben. Französische Modephilosophen wirken hier (un-)freiwillig als Helfershelfer der globalen Machteliten und auch die Genderprogramme tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei. Unter der Illusion der Freiheit werden Bindungen zerstört und vereinzelte Menschen schutzlos der Kontrolle und Ausbeutung ausgeliefert.

Gerechtigkeit und wie sie entsteht

Bild zeigt einen Druck aus dem Jahre 1993 mit dem Leitspruch der Französischen Revolution.

Druck aus dem Jahr 1793 mit Leitspruch der Französischen Revolution.

Zu Beginn seines Essays setzt sich Burchardt mit dem Konzept der Gerechtigkeit auseinander. Er geht davon aus, dass Gerechtigkeit ein Hauptpfeiler eines politischen Gemeinwesens ist und in der modernen Demokratie die Legislative, Exekutive und Judikative gleichermaßen betrifft. Doch dieser Gerechtigkeitsgedanken manifestiert sich durchaus nicht bloß in den demokratischen Institutionen, sondern geht zuallererst von der Zivilgesellschaft hervor, die ein tiefes Bedürfnis nach gerechten Verhältnissen besitzt. Die Akteure haben demzufolge keineswegs bloß egoistisches Eigeninteresse, sondern sie haben zumeist auch das Gemeinwohl bzw. das Wohl der anderen im Blick.

Der Annahme von interessengleiteten Eliten, die besagt, dass erst der paternalistische Staat, der mässigend und züchtigend eingreift, das Motiv der Gerechtigkeit hervorbringe, erteilt er eine Absage. Vielmehr beruft er sich auf die anthropologische Erkenntnis, dass erst das Bedürfnis nach gerechten Verhältnissen die demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Institutionen hervorbringt. Folgerichtig ist für Burchardt sodann ebenfalls der Leitspruch der Französischen Revolution, der bekanntlich aus „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ zusammengesetzt ist.

Burchardt schreibt:

Würde die Demokratie nur aus Freien und Gleichen bestehen, könnte eine Mehrheit mit gleichen Interessen gnadenlos auf Kosten einer Minderheit regieren. Es ist das Moment der Brüderlichkeit, das dem Einzelnen den Gerechtigkeitssinn und den demokratischen Prozessen die Verpflichtung auf das Allgemeinwohl und den Schutz der Minderheit einschreibt.

Gerechtigkeitsproblematik als blinder Fleck der politischen Parteien

Die momentane politische Situation ist für Burchardt durch ein Erodieren des Gerechtigkeitsgedankens gekennzeichnet. Menschen ohne gesellschaftliche Perspektive und ohne politische Lobby würden als Modernisierungsverlierer verunglimpft, die überdies, falls sie überhaupt an den Wahlen teilnehmen, die Frechheit besitzen, rechtspopulistische Parteien zu wählen.

Burchardt schreibt:

Fatal ist in diesem Zusammenhang, dass der öffentliche Diskurs dies nicht zum Anlass nimmt, ernsthaft nach den Nöten dieser Gruppen und den ursächlichen sozialen Verwerfungen zu fragen, sondern in einer perfiden Verdrehung dient genau das Kreuz in der Wahlkabine dazu, die Sorgen und Bedürfnisse dieser Menschen als illegitim und sie selbst als unerwünschte Figuren im politischen Raum darzustellen, eben weil sie bspw. AfD-Wähler sind, womit sie sich ja scheinbar selbst disqualifizieren.

Diese Gerechtigkeitsproblematik ist für Burchardt dagegen der Nährboden dafür, dass rechtspopulistische Parteien von den „Modernisierungsverlierer“ gewählt werden. Zentral für diese Menschen ist keineswegs allein das Verlangen nach ökonomischer Sicherheit und sozialer Geborgenheit, sondern desgleichen die regionale und kulturelle Beheimatung. Die gegenwärtige gesellschaftliche Lage kommt jedoch den Bedürfnissen dieser Menschen nicht nach.

Burchardt schreibt:

Die postmoderne offene Gesellschaft fordert den entwurzelten und kreativen Selbstunternehmer, der die Unverbindlichkeit als Ungebundenheit genießt und beruflich flexibel zwischen Standorten nomadisiert. Oder er arbeitet via Internet – dank interkultureller Kompetenz – mehrsprachig in multinationalen Projektteams, zusammengespannt durch den global harmonisierten Workflow in der universellen Grammatik des neoliberalen Projektmanagements. Sein politisches Engagement vollzieht sich intellektuell und symbolisch kanalisiert und in seinem Konsumverhalten weiß er Hedonismus mit politischer Korrektheit zu verbinden.

Anders dagegen der Modernisierungsverlierer: Er weist nicht nur einen saumäßig schlechten Geschmack auf (isst Fleisch, raucht, treibt wenig Sport und schaut Unterschichten-TV), er versteht desgleichen nicht, weshalb gegenwärtig, nach jahrzehntelangem Neoliberalismus mit zunehmend aufgehender Schere bei der Einkommens- und Vermögensverteilung, anwachsendem Niedriglohnsektor sowie allgemein einer gesellschaftlichen Entsolidarisierung, ausgerechnet Banken gerettet werden müssen, der Militärhaushalt erhöht und für die Integration von Flüchtlingen Milliarden bereitgestellt werden sollen.

Soweit einmal die Analyse der gegenwärtigen politischen Lage durch Burchardt. Die zugegeben bloß holzschnittartig skizziert wurde, der Tendenz nach aber gewiss richtig ist, jedoch das Erstarken der rechtspopulistischen Parteien mit der Modernisierungsverliererthese nicht restlos erklären kann, zumal gerade nicht die ökonomisch am schlechtesten gestellte Bevölkerungsschicht überdurchschnittlich rechtpopulistische Parteien wählt, sondern die, die noch etwas zu verlieren hat und weitere Besonderheiten: wie beispielsweise, dass gerade Menschen, die nicht im Staatssektor tätig sind, überdurchschnittlich solche Parteien wählen.

Unterschiedliche Politikangebote zwischen links und rechts

Auf gesellschaftlich unsichere Zeiten reagieren nun die Parteien mit unterschiedlichen Konzepten. Die Rechtspopulisten agieren mit dem Konzept des Völkischen. Dieses greift zutiefst menschliche Bedürfnisse nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit auf, wird jedoch von den Rechtspopulisten ideologisch und instrumentell gebraucht

Burchardt schreibt:

Das heißt, das Moment der Brüderlichkeit, welches Gemeinsinn, Solidarität und Gerechtigkeit gewährleisten könnte, dient bloß dazu, Menschen zu ködern, um sie für den eigenen Willen zur Macht zu missbrauchen. Die AfD verfolgt hinter der Fassade der Rückbesinnung auf nationale Gemeinschaften letztlich eine zutiefst neoliberale Agenda, deren sozialpolitische Folgen zulasten der eigenen Klientel gehen würden.

Das scheint mir eine zu eindimensionale Einschätzung rechtspopulistischer Parteien durch Burchardt zu sein. Selbstverständlich wird es Politiker geben, die den Rechtspopulismus hauptsächlich instrumentell verwenden, um alleinig Macht und Einfluss in der Politik zu erlangen, aber das dürfte vielfach keineswegs das einzige Motiv sein. Rechtspopulisten vertreten häufig ebenfalls ein eher konservatives Weltbild, sie reagieren insbesondere auf eine zunehmende kulturelle Globalisierung, auf Individualisierungsschübe sowie auf gesellschaftliche Identitäts- und Repräsentationskrisen und dies nicht bloß aus rein instrumentellen Interessen.

Identitätspolitik von rechts: das Volk bzw. das Völkische

Problematisch für Burchardt wird der Begriff des Volkes dann, wenn dieser mit einer völkischen Identität einhergeht und den Deutschen oder anderen Nationalitäten ein eigenes Wesen zuspricht, das insbesondere mit der Abwertung anderer Nationen und deren Bevölkerung verbunden wird.

Burchardt schreibt:

Die Vorstellung eines unveränderlichen und eindeutigen Nationalcharakters, der in allen Bürgern am Werke sei, ignoriert die Geschichtlichkeit und Vielgestaltigkeit politischer Gemeinschaften. Nationen sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sind eine historische Folge kriegerischer Konflikte oder politischer Gründungsakte, denen stets etwas Zufälliges innewohnt.

Dabei können unterschiedliche Bindeglieder wie gemeinsame Sprache, Religion, Sitten, Gebräuche bei einem Volk vorhanden sein oder eben auch nicht: Die Schweiz beispielsweise hat nicht nur eine Landessprache, sondern vier: Französisch, Italienisch, Deutsch und Rätoromanisch.

Burchardt schreibt:

Wer also eine völkische Identität behauptet, homogenisiert das Vielgestaltige und Unähnliche. Ich möchte dies den Terror der Identität nennen, die Gleichmacherei durch Zerstörung oder Aussonderung des Abweichenden.

Bei den Nationalsozialisten wurde beispielsweise Identität nicht in der Bevölkerung aufgesucht, sondern top-down ideologisch und instrumentell von oben herab konstruiert bzw. verordnet. Mit dem Konzept des Volkes bzw. des Völkischen ist eine weitere Problematik verbunden:

Burchardt schreibt:

Die Erschleichung einer Legitimation durch die Behauptung, ein Sprachrohr des Volkswillens zu sein. Populisten erheben sich mit markigen Worten zu Anwälten der Ausgegrenzten und sprechen dann als Auguren vermeintlich ›im Namen des Volkes‹. Anders aber als ein Richter tun sie dies nicht aus einer demokratisch kontrollierten und legitimierten Amtsrolle heraus, sondern in einer übergriffigen Vereinnahmung, welche gar nicht mehr an einem vielstimmigen demokratischen Aushandlungsprozess interessiert ist.

Identitätspolitik von links: Differenz, Heterogenität, Vielheit und Diversity

Neben der völkischen Ideologie der Rechtspopulisten, werden der Gemeinschaftssinn und das Gerechtigkeitsbedürfnis der Menschen durch eine linke Identitätspolitik hintertrieben, dies durch eine Fragmentierung der Gesellschaft durch identitätspolitisch bewirtschaftete Gruppen.

Burchardt schreibt:

Eine andere Strategie zur Brechung der Macht der Vielen besteht im Terror der Differenz. Divide et impera! Teile – oder besser: spalte! – und herrsche! Da die Macht der Vielen aus ihrer Brüderlichkeit erwächst und zu einem einvernehmlichen Handeln führen kann, hätten die Machteliten dem wenig entgegenzusetzen. Deshalb säen sie Zwietracht und schüren Konflikte zwischen den Unterworfenen, damit diese nicht zueinander finden, um gemeinsam ihre demokratischen Ansprüche durchzusetzen. Geheimdienste, Stiftungen und Think Tanks setzen systematisch auf die Kraft der Zersetzung.

Mit den Begriffen wie Diversity, Heterogenität und Vielfalt werden in sozio-kulturellen Bereichen die Trennung und das Trennende bewirtschaftet. Den Akteuren, die mit diesen Begrifflichkeiten hantieren, wird zwar ein guter Wille unterstellt, doch dadurch entsteht eine Selbstunterwerfung und die Möglichkeit, andere zu unterwerfen. Den programmatischen und theoretischen Hintergrund dieser Machtpraxis sieht er im französischen Poststrukturalismus.

Burchardt schreibt:

Im Namen von „Diskurstheorie“ und „Dekonstruktion“ wurde von diesen nicht nur die Philosophiegeschichte abgearbeitet (und gewissermaßen entsorgt), sondern auch jegliche Voraussetzungen für linke Widerstandspolitik und einen humanistischen Gegenentwurf zum Bestehenden zerlegt. Modelle von Wahrheit, Aufklärung, Gerechtigkeit, Vernunft, Emanzipation, Kritik, Ethik, Menschenrechte und sogar die Fähigkeit des Menschen als Person oder Gemeinschaft Urheber von politischen Veränderungen sein zu können, werden radikal bestritten. Für Michel Foucault etwa sind dies keine unumstößlichen Konzepte, sondern bloß zufälliger Ausdruck von anonymen Machtdiskursen, die den Menschen steuerten, ohne vom Menschen gesteuert zu sein.

Dies ist selbstverständlich ein Frontalangriff auf die postmoderne Linke, die Genderstudies und den Queer-Feminismus.

Strukturalismus, Poststrukturalismus und die Kritik daran

Noch ein paar Worte zum Strukturalismus bzw. Poststrukturalismus: Der Strukturalismus (strukturalistische Linguistik) wurde vom Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure begründet. Dieser fasst Sprache als ein Zeichenmodell auf, dabei unterscheidet er zwischen langue und parole. Mit langue meint er das System der sprachlichen Zeichen, mit parole meint er die von den Akteuren in der Praxis gesprochene Sprache. Sprache ist für ihn somit ein System und jedes Element dieses Systems steht mit anderen Elementen in einer Beziehung/Relation, sei dies durch Abgrenzung oder Übereinstimmung. Die Sprache ist demzufolge in einer gewissen Weise strukturiert, daraus leitet sich ferner der Name Strukturalismus ab. Aus der Kritik am Strukturalismus entstand der Poststrukturalismus: Dieser kritisierte insbesondere die ungenügende Beachtung der Eigenleistung der Rezipienten bei der Interpretation von Texten; dem tatsächlichen Sprachgebrauch (parole) wird im Poststrukturalismus nun in wachsendem Maße Aufmerksamkeit geschenkt. Ebenfalls werden im Poststrukturalismus ahistorische, kulturübergreifende Gesetzmäßigkeiten, wie sie z.B. der Ethnologe Lévi-Strauss formulierte, abgelehnt. Vielmehr werden historische Diskontinuitäten bzw. historische Ereignisse hervorgehoben. Zentral für den Poststrukturalismus ist, dass Sprache die gesellschaftliche Realität nicht einfach abbildet, sondern mithilfe ihrer Kategorien bzw. Kategorisierungen konstruiert bzw. konstituiert. Es findet demzufolge eine durchgehende Semiotisierung der sozialen Welt statt, das heißt, die soziale Wirklichkeit wird primär mittels der Analyse von Zeichen bzw. Zeichensysteme entschlüsselt. Überspitzt könnte man formulieren: eine soziale Welt bzw. Wirklichkeit außerhalb der Sprache existiert nicht. Untersucht werden somit in der poststrukturalistischen Forschung Wissensordnungen und diskursive Formationen, die durchgängig mit Macht verknüpft sind und grundsätzlich kulturelle Ordnungen und Herrschaftsverhältnisse konstituieren und stabilisieren.

Bezüglich der Kritik am Poststrukturalismus schreibt Burchardt:

So hilfreich diese Analysen sein mögen, um die verborgenen Interessen hinter wohlklingenden Begriffsfassaden auszumachen, so vernichtend sind die Kernthesen: Es gibt keine Wahrheit. Es gibt keine Vernunft. Es gibt kein Subjekt. Es gibt keinen Menschen. Es gibt keine Aufklärung. Es gibt keine Dialektik. Es gibt keine Geschichte, die wir zum Guten wenden können. Wir alle sind bloß Marionetten, die von der unsichtbaren Hand des Diskurses gespielt werden.

So abstrus diese Thesen für Außenstehende klingen mögen, für die Wissenschaftlergeneration, die momentan die geistes- und sozialwissenschaftlichen Lehrstühle besetzt, haben sie – trotz der Behauptung, es gäbe keine Wahrheit – unumstößliche Geltung.

Linke Identitätspolitik als Soft-Terror der Differenz

Dieser Soft-Terror der Differenz, wie Burchardt diese linke Identitätspolitik nennt, veranschaulicht er am Beispiel des Gender-Programms. Zugunsten der Leserfreundlichkeit kann an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Darlegungen von Burchardt eingegangen werden, zentral scheint mir jedoch der folgende Punkt zu sein: Anstatt die wirklich zentralen Konfliktlinien zwischen den Armen und Reichen und den wenigen, die Macht haben und dem großen Heer der Ohnmächtigen zu thematisieren, werden mit Genderprogrammen, Vielfalt, Differenz, Heterogenität und Diversity ein Kampf von tausend Partikularinteressen, die vielfach gegeneinander kämpfen, hervorgebracht.

Burchardt schreibt:

(…) zum anderen werden im Gegenzug unzählige Mikrokonflikte als Ersatzschauplätze zur Erringung von „Gerechtigkeit“ geschaffen. Welche politische Bedeutung hat zum Beispiel die folgende Meldung: Lesbische Frauen verdienen nach einer australischen Studie um 13 Prozent mehr als heterosexuelle Frauen?

Statt die Prozentzahlen des Einkommens der Gendertypen zu registrieren, zu vergleichen und ggf. zu korrigieren, stünde doch eigentlich die Frage auf der Tagesordnung, welche verheerenden Folgen der Neoliberalismus global und lokal anrichtet, und wie ungerecht sich Macht und Wohlstand auf einen geringen Prozentsatz der Weltbevölkerung konzentrieren.

Je stärker die wenigen Mächtigen die Vielen aber in Mikrokonflikte verstricken und gegeneinander ausspielen, durch Sprachpolitik in der Artikulation steuern und in jeder nur denkbaren Hinsicht „Unterschiede“ zwischen den Unterworfenen hervorbringen, umso mehr verschwindet das Solidaritäts- und Gerechtigkeitsmotiv des Gemeinsamen.

Im Anschluss an Lenin stellt sich die Frage: Was tun? 😉

Diesbezüglich schreibt Burchardt:

Welche Folgerungen sind aus diesen Abwägungen zu ziehen? Es ist deutlich, dass an beiden Seiten der Achse von Identität und Differenz politische Gefährdungen lauern. Das demokratische Gemeinwesen und seine Bürger leben von der produktiven Dialektik zwischen Gemeinschaft und Individuum, von Identität und Differenz. In welcher Form auch immer: Es sollte dringend nach einer vertretbaren Form des altbekannten Brüderlichkeitsmotivs als Horizont und Bedingung von Gerechtigkeit gesucht werden, damit weder der Terror der Identität noch derjenige der Differenz die Herrschaft der Wenigen über die Vielen zementiert.

Im Kern scheint mir die Analyse und die Folgerungen von Burchardt richtig zu sein. Hören wir von den Genderstudies etwas von Neoliberalismus, von Austeritätspolitik, von Finanz- oder Casinokapitalismus, von Keynesianismus, von angebotsorientierter Wirtschaftspolitik, Makroökonomie, Politische Ökonomie, Politische Soziologie, Agenda 2010, Hartz IV, Niedriglohnsektor, Exportüberschüsse, Einkommens- und Vermögensverteilung, regime change, Geopolitik. Elitenforschung etc., usw., usf.? Nein, natürlich nicht: Diversity, sexistische Werbung, gendergerechte Sprache, Gender Pay Gap, Gläserne Decke etc. Klar, man sollte das Eine nicht gegen das Andere ausspielen, aber die postmoderne Linke hat m.E. tatsächlich den Blick auf die Totalität verloren und übt sich im Kampf der tausend Partikularinteressen gegeneinander.


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