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Der fremde Mann

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Zu Shaun Tans Ein neues Land, das plötzlich überraschend aktuell geworden ist

Das Buch ist zehn Jahre alt, und es passt in die derzeitige politische Situation wie kein anderes. Shaun Tan, australischer Zeichner und Autor, veröffentlichte seine Graphic Novel Ein neues Land (The Arrival) im Jahr 2006. Das Buch erzählt eine ganz einfache Geschichte: die eines Mannes, der sein Heimatland und seine Familie verlässt, der in ein fremdes Land auswandert, dort eine Wohnung und nach einiger Zeit auch eine Arbeit und Freunde findet, und der seine Familie schließlich nachholt.

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Der Begriff „erzählt“ ist allerdings irreführend: Das gesamte Buch ist wortlos, die Handlung wird allein in Bildern präsentiert. Gleichwohl kann es heute auch als Kommentar verstanden werden zu Ressentiments, die aktuelle politische Debatten in Deutschland prägen – und als Gegenbild zu Bildern, die in diesen Debatten von allen politischen Richtungen instrumentalisiert werden: zu Bildern von Migranten und zu Bildern von Männern.

 

Familienfoto und Drachenschatten

Das Buch beginnt, bevor es beginnt, auf der inneren Umschlagseite – mit 60 kleinen Portraitbildern unterschiedlicher Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft. Wir können uns später denken, dass es alle Migranten sind, und dass wohl jedes dieser Bilder mit einer Geschichte verbunden ist wie der, die wir nun kennenlernen.

Ein gefalteter Vogel aus Papier, eine Uhr, ein Hut, ein gepackter Koffer und zwei Bilder einer Familie, eines als Foto und das andere als Kinderzeichnung: Auf der ersten Seite sehen wir Alltagsgegenstände, die in die Wohnung gehören, die der Mann nun verlassen wird. Er packt das Familienfoto sorgfältig ein, die Tochter wird geweckt, isst müde ihr Frühstück – und dann macht sich die kleine Familie auf den Weg.

In den Straßen, durch die diese kleine Familie geht, sehen wir auf den Hauswänden große sich schlängelnde Schatten, als seien es die Schatten von Drachenschwänzen: Ein Hinweis auf eine diffuse, aber allgegenwärtige Bedrohung, der andeutet, warum der Mann seine Heimat verlässt.

Am Bahnhof schenkt er seiner Tochter noch den kleinen Papiervogel, den er gefaltet hatte, verabschiedet sich von seiner weinenden Frau, steigt in den Zug – für einen Moment halten sich noch die Hände der drei – dann lösen sie sich, der Zug fährt ab und wird klein am Horizont. Mutter und Tochter gehen zurück nach Hause, durch die Straßen und unter den bedrohlichen Schatten.

Das Familienfoto ist ein Leitmotiv der Geschichte. Der zweite Teil beginnt mit ihm, nun aber steht es in einer Schiffskabine, die der Mann belegt hat – inmitten andere Flüchtlinge, die auf demselben Schiff über ein riesiges Meer fahren. Nach vielen Tagen – symbolisiert durch 60 kleine Bilder unterschiedlicher Wolkenformationen – schaut der Mann irritiert in den Himmel und sieht dort einen großen Schwarm fremdartiger Wesen, die wie weiße fliegende Fische aussehen. Das Land ist nah.

Schifffahrt und Ankunft sind offensichtlich der Einreise in die USA nachgebildet – am Hafen erwartet die Ankömmlinge nicht die Freiheitsstatue, aber eine riesige Statue zweier Menschen, die einander die Hände reichen – sie warten in langen Schlangen und betreten dann eine riesige Halle wie auf Ellis Island. Dort wird jeder von ihnen untersucht, befragt und mit Zetteln beklebt, auf denen seltsame unverständliche Zeichen offenbar die Ergebnisse der Untersuchungen festhalten. Schließlich erhält der Mann einen Pass, der ihm die Einreise erlaubt – ein großer Ballon trägt ihn über die fremdartige Stadt bis zu einem Platz, an dem er aussteigen kann.

Die Fremdartigkeit durchzieht nun das gesamte Buch, und sie entsteht durch das Zusammenspiel von fast fotorealistischen Zeichnungen der Personen und einer surrealen Umgebung. Der Mann sieht einen Zeitungsjungen, dessen Zeitungen unverständliche Buchstaben enthalten – die Menschen sind vertraut, aber die Tierwelt ist seltsam und unheimlich: eine Katze ohne Fell und mit riesigen Augen, Tintenfische mit Schneckenhäusern. Ein Straßenverkäufer bietet Essen an, in seinem Wagen sitzt ein drachenähnliches kleines Tier.

Als der Mann schließlich eine Wohnung findet, ist die schon bewohnt – von einem Tier, das sich verhält wie ein kleiner Hund, aber aussieht wie ein Fisch auf vier Beinen. Als er seinen Koffer öffnet, steigt ihm aus den vertrauten Sachen darin das Bild seiner Frau und seiner Tochter entgegen – er nimmt als erstes das Familienbild heraus, hängt es an die Wand – und dann entfernt sich der Blick von ihm wie mit einer Kamerafahrt durch das Fenster seiner winzigen Wohnung nach draußen in die riesige Stadt, von der er nur ein winziger Teil ist.

Er findet schließlich nach vielen Ablehnungen Arbeit, am Ende am Fließband einer gigantischen Fabrik neben Hunderten anderer Arbeiter. Er lernt Menschen kennen, andere Migranten, die ihm ihre Geschichten erzählen – Geschichten, die wir über Rückblenden kennenlernen. Ihre Flucht vor Ausbeutung und Hunger schildert eine junge Frau, ein Mann schildert die Flucht seiner Familie vor dem Terror einer unendlich gewaltsamen Welt, in der riesenhafte Menschen in Schutzanzügen mit riesigen Staubsaugern Jagd auf die winzige Bevölkerung machen. Ein anderer Mann erzählt von  dem Krieg, in den die Männer – von jubelnden Frauen mit Blumen beworfen – begeistert gezogen sind, in dem sie in Massen starben und aus dem als Krüppel er in ein zerstörtes Land zurückkehrte.

Die sonst sepiafarbenen Bilder färben sich für eine Weile schwarz bei der Erinnerung an diese Vorgeschichten, doch dann folgen Bilder einer riesigen, unwirklich strahlenden Sonne, unter der die Menschen gemeinsam spielen – Bilder von Pflanzen, die sich im Jahreslauf ändern – und schließlich erhält der Mann einen Brief, aus dem ihm sein kleiner gefalteter Papiervogel entgegenfällt: Seine Frau und seine Tochter kündigen sich an.

Er rennt ihnen entgegen, sie steigen aus ihrem Ballon aus in die fremde Welt, zweifelnd um sich blickend – dann sieht die Tochter den Vater und strahlt. Schließlich sitzt die Familie gemeinsam am Frühstückstisch in dem Zimmer, das Familienfoto hängt an der Wand, und die Tochter geht mit dem fischähnlichen Hund spazieren. Auf der letzten Seite zeigt sie einer Frau, die gerade in dem Land eingetroffen ist, den Weg: Sie ist schnell heimisch geworden.

 

Zuflucht und Fremdheit

Dadurch, dass das Buch vollständig wortlos ist, kann die Fremdheit des Landes nicht überbrückt werden – sie bleibt unvermittelt, aber auch unmittelbar. Obwohl das Land Zufluchtsland ist, bleibt es durch seine Fremdheit und Undurchschaubarkeit unterschwellig bedrohlich. Als der Mann als Briefträger arbeitet, begegnet ihm in einem Haus etwa ein riesiges drachenähnliches Tier, das ihn anfaucht und vor dem er panisch davonläuft.

Noch ein anderer Aspekt des Buches macht die Situation eines Migranten nachvollziehbarer. Die uns bekannte aktuelle politische Situation wird verzerrt gespiegelt, viele der Flüchtlinge wirken europäisch, das neue Land mutet auf eine surreale Weise asiatisch an. Natürlich aber werden auch Unterschiede zur gegenwärtigen Situation in Deutschland deutlich.

Obwohl unüberschaubar viele Flüchtlinge in das Land kommen, ist die Einreise geregelt, im Mittelpunkt steht ein einziger Mann, mit dem gemeinsam wir das neue Land betreten. Mit einzelnen Menschen ist Empathie leicht möglich, so wie sicherlich Flüchtlingshelfer in Deutschland auch mit der Situation von den Menschen vertraut werden, die sie persönlich kennen lernen. Die gigantische Größe von einer Million Migranten im Jahr aber wirkt abstrakt, angsteinflößend, unkalkulierbar – und sie eignet sich dazu, mit Ressentiments zu arbeiten.

Zwischen den unerklärt und unspezifisch bleibenden „Wir schaffen das“-Parolen Merkels und den Ressentiments gegen Migranten gibt es so keine Vermittlung. Schlimmer noch: Rechte wie Linke verweigern sich politischer Analyse, setzen ganz auf lauthals vorgetragene Ressentiments und unterscheiden sich nur noch durch die Gruppen, gegen die sich ihre Ressentiments richten.

Ausgerechnet der Populist Gerhard Schröder erscheint heute als eine Ausnahme, wenn er nicht gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen Stellung nimmt, sondern kritisiert, dass Deutschland kein Einwanderungsgesetz habe, so keine Kontingente für die Aufnahme von Migranten bereitstelle und die Einwanderung sämtlich durch das Asylrecht schleuse.

 

Die Fremdheit der Männer

Ansonsten setzten sich auch Linke nach der Silvesternacht von Köln nicht mit der Politik der Bundesregierung auseinander, vermeiden die politische Analyse aber nicht durch Attacken gegen muslimische Männer, sondern durch Attacken gegen Männer generell. Männer würden sich über die sexuellen Attacken von Köln nur empören, weil sie sexuelle Gewalt gegen deutsche Frauen für ein Privileg deutscher Männer hielten – das schreibt die Kolumnistin Margarete Stokowski im Spiegel, sekundiert von Jakob Augstein.

Sexismus sei ein allgemeines Problem, das ausnahmslos bekämpft werden müsse – so behauptet eine medial ungemein gepushte Aktion von Feministinnen, die suggeriert, dass ganz allgemein Männlichkeit Wurzel dieses Problems sei. Die Kampagne wird auch von Regierungsmitgliedern unterstützt, die damit eine Gelegenheit erhalten, von der angsteinflößenden Fahrlässigkeit und Kopflosigkeit der Regierungspolitik abzulenken.

Alle Männer seien potenzielle Vergewaltiger, äußert sich zugleich ein Mitglied einer Oppositionspartei, der stellvertretende Vorsitzende der Grünen in Hamburg, ohne das jemand in seiner Partei auf die Idee käme, ihn zum Rücktritt aufzufordern. Männer, ja sogar Jungen seien allein durch ihre Geschlechtzugehörigkeit tendenziell immer schon Verbrecher – im Deutschland des Jahres 2016 geht dieses Agieren mit primitiven Ressentiments glatt als linke Politik durch.

So wie das stille, ruhige und beeindruckende Buch Tans sich von den Ressentiments gegen Flüchtlinge unterscheidet, so distanziert ist es auch gegenüber den Ressentiments gegen Männer. Davon, dass die Welt ringsum eine „Männerwelt“ sei, ist hier nichts zu sehen.

Die Welt ist dem Mann fremd und unvertraut, sie ist bedrohlich und seltsam. Spezifisch „männlich“ an ihm ist nicht, dass ihm diese Welt gehöre – sondern dass  er alles tut, um sie sich vertraut zu machen, um in ihr sinnvoll agieren und seiner Familie ein Zuhause bieten zu können. Wenn die schließlich eintrifft, hat er in den langen Monaten zuvor schon die Bedingungen dafür geschaffen, dass dieses Land für sie schnell vertrauter sein kann, als es das für ihn war.

Das lässt sich so fast ohne Änderung in die Realität außerhalb der surrealen Graphic Novel Tans übertragen. Dass die Welt eine Männerwelt sei, mag Frauen tatsächlich so erscheinen, wenn sie in Kontexte eintreten, in denen weitgehend Männer agieren. Nur ein winziger Anteil von Männern – und Frauen, übrigens –  lebt jedoch tatsächlich in einer Situation, in der sie den Glauben pflegen könnten, ihnen gehöre die Welt. Für die meisten Männer ist eben ein Leben wie das des Mannes in Tans Ein neues Land spezifisch männlich.

Das sehen viele Frauen womöglich anders, und das mag aus ihrer Perspektive Gründe haben. Die Vorstellung einer „Männerherrschaft“ aber, in der sexuelle Gewalt zum männlichen Alltag gehöre und beständig zur Sicherung dieser Herrschaft ausgeübt werde – diese Vorstellung kann nur jemand aufrechterhalten, der Männer überhaupt nicht zu Wort kommen lässt.

Ebenso verkehrt ist auch das Bild des Flüchtlings, der in angstbesetzten Darstellungen der politischen Rechten als rücksichtsloser Besatzer hingestellt wird, wahllos deutsche Frauen angreifend. Jeweils wird Menschen in Pauschalisierungen eine Macht zugeschrieben, von der diese Menschen selbst überhaupt nichts wissen.

Es ist unendlich schade, dass ein leises, ruhiges und beeindruckendes Buch wie das von Tan in dem Gebrüll von allen Seiten keine Chance hat, Teil der allgemeinen Diskussion zu werden.

„Alles, was lang währt, ist leise“ – das ist eine Zeile aus einem Gedicht von Ringelnatz, und das ist wohl zu idealistisch. Die Zeile stammt aus dem Gedicht mit dem Titel „Ich habe dich so lieb“. Das fällt aus der Zeit in einer Situation, in der Akteure auf allen Seiten grundlegende Feindschaften predigen und betonierte Ressentiments pflegen.

Fast: ausnahmslos.

 

Shaun Tan: Ein neues Land (englische Originalausgabe: The Arrival

Die englische Ausgabe ist in Deutschland deutlich günstiger – was seltsam ist, das sie sich durch die Wortlosigkeit des Buchs von der deutschen natürlich nur unwesentlich unterscheidet.


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