Die Journalistin Lara Fritzsche beschäftigt sich in einem Beitrag mit dem Wahlkampf einer Spitzenkandidatin für das Ministerpräsidentschaftsamt hinsichtlich Geschlechterrollen und –stereotypien und hat dabei Ungeheuerliches entdeckt.
In ihrem Blogbeitrag, mit dem Titel „Frauenlauer“ befasst sich Lara Fritzsche vornehmlich mit der Spitzenkandidatin der CDU für das Ministerpräsidentschaftsamt in Rheinland-Pfalz: Julia Klöckner. Ort des Geschehens ihrer Reportage ist eine Wahlveranstaltung des CDU-Ortsverbands im „Örtchen“ Ingelheim („Provinz“) im Bundesland Rheinland-Pfalz, bei der Klöckner die Hauptrednerin war. Dabei geht es Fritzsche vor allem darum, den Geschlechterstereotypien und –rollen nachzuspüren, denen Frauen als Spitzenkandidatinnen für ein Ministerpräsidentschaftsamt oder anderen Spitzenpositionen in einer Exekutive unterliegen.

Julia Glöckner
Ein leicht sexistisches Lied an der Wahlveranstaltung
Lara Fritzsche schreibt in ihrem Vorspann:
„Erstmals in der deutschen Geschichte stehen sich bei einer Landtagswahl zwei Spitzenkandidatinnen gegenüber. Die beiden Frauen führen einen Wahlkampf ohne Kampf – und das ist leider das Schlaueste, was sie machen können.“
Fritzsche kommt in ihrer Reportage gleich zur Sache und schildert den „vergnüglichen“ Beginn der Wahlveranstaltung u.a. wie folgt:
„Auf der Bühne stehen sieben junge Frauen und singen a cappella. Alle sind sie schwarz-rot gekleidet, alle wippen sie im Rhythmus zu ihrem Lied. Es handelt von Frauen und was die alles können: »Männer verführen, bestellen und stornieren, Brote schmieren, Pflaster kleben, Geheimnisse rauskriegen, sich gut cremen, gut aussehen.« Die Männer nicken, und die Frauen gucken neckisch ertappt und kriegen dafür ein Bussi. (…) Alles so weit normal: Feierabend in der deutschen Provinz, ein Bierchen und ein bisschen lieb gemeinter Sexismus, von dem sich niemand angegriffen fühlt. Julia Klöckner sitzt zwischen den Ingelheimern und klatscht mit. Was bleibt ihr auch übrig.“
Das ist richtig! Wer Ministerpräsidentin werden möchte, der sollte bei seiner Wählerbasis zumindest den Anschein von „Volkstümlichkeit“ (Sozialintegration und Rollenübernahme) wachrufen, sonst wird es wohl eher weniger klappen mit dem höchsten Exekutivamt auf Landesebene. Aber: wer sagt, dass dies Julia Klöckner nicht auch gerne macht? Das können wir selbstredend nicht wissen! Und was genau meint wohl Fritzsche mit dem „lieb gemeinten Sexismus“? Ist das Lied ihrer Meinung nach deswegen „lieb sexistisch“, weil die Frauen darin „nur“ bestimmte Tätigkeiten ausführen und andere Tätigkeiten, die sie ebenso in ihrem Leben tun, keine Erwähnung finden? Dürfen demzufolge nur noch Lieder gesungen werden, wenn diese nicht das Etikett sexistisch aufgeklebt bekommen wollen, wenn mithin die gesamte Spannbreite aller Tätigkeiten, die Frauen in ihrem Leben überdies noch ausüben, dargetan werden? Folglich korrekt „gegenderte“ Lieder bzw. Kultur? Und wie ist das zu bewerten, wenn sich die Frauen, die diese Lieder singen, mit dem Inhalt des Liedes identifizieren können und ein grosser Teil des Publikums ebenfalls? Es ihnen infolgedessen völlig ausreicht, wenn Frauen, die das so möchten und frei wählen, nur diese Tätigkeiten in ihrem Leben erwähnenswert oder toll finden?
Im Zusammenhang des Liedes schreibt Fritzsche:
„Julia Klöckner möchte aber keine Knie pusten, sie möchte Ministerpräsidentin werden, sie möchte die mächtigste Frau in einem Bundesland werden. (…) Kurz: Julia Klöckner ist nicht die Art Frau, die hier besungen wird. Und wenn sie die Menschen anspricht, merkt man, dass sie weiß, dass das ein Problem ist.“
Woher weiss Fritzsche, dass Klöckner keine Knie pusten möchte? Hat sie Klöckner darauf angesprochen? Vielleicht möchte ja Klöckner Knie pusten und Ministerpräsidentin werden?!
Einmalig: Zwei Frauen als Spitzenkandidatinnen
Fritzsche schreibt:
„Erstmals stehen sich jetzt in einem deutschen Landtagswahlkampf zwei Frauen gegenüber. Malu Dreyer und Julia Klöckner in Rheinland-Pfalz. Und damit stellt sich die Frage: Ist dadurch alles anders? Führt eine Frau einen anderen Wahlkampf? Ist es dann ein Vorteil, wenn die Konkurrenz auch eine Frau ist: Ist das dann ein Patt? Hebt sich der Faktor Frau gegenseitig auf, so wie minus mal minus plus ergibt? Gibt es überhaupt einen Faktor Frau – oder ist das bloß eine angenommene diffuse Kraft, die der eine als mysteriöse Geheimwaffe und der andere als offensichtlichen Nachteil beschreiben würde? Diese Fragen können nur die beantworten, die Politik machen, und am besten können es die beantworten, die als Frau Politik machen.“
Wenn man diese Fragen valide beantworten möchte, sollte man sich ev. nicht nur auf die subjektiven Aussagen der Frauen verlassen, die Politik machen. Vielmehr wäre es mutmaßlich sinnvoll, wenn beispielsweise auch Experten, die sich wissenschaftlich intensiv mit diesen Fragen beschäftigt haben, befragen würden, weil sie wissenschaftliche Studien über diesen Forschungsgegenstand angefertigt haben.
Die Schwierigkeit mit den Frauen, die Ministerpräsidentin werden wollen
Fritzsche schreibt:
„Und schnell wird klar: Dies wird keine Geschichte über die Schwierigkeiten von Frauen. Es ist eine über Schwierigkeiten mit Frauen. Denn keine der oben genannten Frauen empfindet es als Problem, eine Frau zu sein. Auch nicht als schwierig. Es ist nicht das Amt, das anders lastet, nicht der Machtkampf, den sie scheuen. Das Problem, das sie haben, liegt darin, dass andere eines mit ihnen haben. Viel mächtiger als der politische Kontrahent oder der harte Angriff ist das Klischee, wie eine Frau zu sein hat. Das ist ihr Gegner. Und nie ist dieser Gegner so stark wie im Wahlkampf.“
Wie hat denn letztlich eine Frau zu sein? Haben bei dieser Frage 100% aller Menschen in Deutschland die gleiche Meinung? Oder gibt es nicht ev. mehr als bloß ein Frauenbild, das sich herauskristallisiert. Gibt es repräsentativ empirische Studien darüber, welche Vorstellungen die Menschen haben, wie eine Frau sein sollte?
Und der Mann? Kann dieser im Gegensatz zur Frau so sein, wie er will? Gibt es über den Mann infolgedessen keine Stereotypien oder Geschlechterrollen mit Zwangscharakter?
Bezugnehmend auf Arno Gruen schreibt Lothar Böhnisch in diesem Zusammenhang folgendes:
„Er argumentiert, dass Männer in unseren Industriegesellschaften auf Grund ihrer habituell eingeübten Zurichtung für den industriellen Prozess stärker gesellschaftlich ‚ausgesetzt‘ sind und das sie damit auch unter einem rigideren Zwang stehen, eigene Bedürfnisse zu unterdrücken und die eigene Hilflosigkeit diesem Ausgesetztsein gegenüber zu verleugnen. (…) Der Mann ist aber nicht nur der ökonomisch-gesellschaftlichen Verfügbarkeit und Zurichtung stärker ausgesetzt, er hat auch keine eigenverfügte Alternative sein Mannsein aus den gesellschaftlich-ökonomischen Fesseln zu lösen und aus sich heraus, seine eigene Natur aufzubauen.“ (Böhnisch 1996: 34)
Das heisst: Nicht nur die Frauen sind einem gesellschaftlichen Rollenzwang ausgesetzt, sondern überdies die Männer.
Der Mann ein leeres Blatt und zugleich die Norm
Fritzsche schreibt:
„Ein Mann ist ein leeres Blatt Papier. Eine Frau ist kein leeres Blatt, sie ist eine Abweichung vom Normalzustand. Sie ist die Frau. Natürlich ist sie noch mehr. Sie kann schlau sein oder dämlich, höflich oder unfreundlich, rigide oder locker. Aber sie ist das alles als Frau. Das Blatt Papier, das sie ist, hat die Farbe rosa. Alles, was man darauf schreibt, sieht anders aus als auf einem weißen Blatt Papier. Blaue Tinte wirkt lila. Gelbe Tinte wirkt orange. Aus energisch wird hysterisch. Aus konsequent wird zickig. Aus realistisch wird verbittert. Aus attraktiv wird Barbie. Aus Vollzeitpolitikerin wird Rabenmutter. Aus durchsetzungsstark wird eiskalt. Aus schwanger wird »nicht erreichbar«. Aus emotional wird gaga. Aus machtbewusst wird Königsmörderin. Und aus einem neutralen Gesichtsausdruck wird bei einer Frau ein unfreundlicher. Politikerinnen müssen all diese Verfärbungen immer mitdenken.“
Und wenn unterschiedliche Männer mit homogenen Verhaltensweisen beurteilt werden, dann werden sämtliche Männer identisch bewertet: wenn sie lachen, schmunzeln, feixen, wütend sind, ärgerlich sind – zumal sie ja schliesslich die Norm sind? Wenn ich unterschiedliche Männer betrachte, die sich deckungsgleich verhalten, dann kann mir ein Lachen sympathisch oder weniger sympathisch sein, das Gleiche gilt bei Frauen. Zugleich werden andere Menschen wahrscheinlich zu einer anderen Bewertung kommen als ich: Sie finden das Lachen eines Mannes unsympathisch, das ich sympathisch finde und umgekehrt. Nun kann es sein, dass im Durchschnitt Frauen anders beurteilt werden im Vergleich zu Männern, wenn sie beispielshalber lachen, weinen, wütend etc. sind. Dem ungeachtet: positive wie negative Vorurteile gibt es nicht lediglich über Frauen, sondern gerade auch über Männer. Das Blatt ist demzufolge auch beim Mann nicht einfach weiss, sondern dieses hat desgleichen bereits eine gewisse Färbung bei bestimmten Verhaltensweisen. Insofern ist die Frau nicht bloss eine Abweichung von der Norm; genauso gut könnte man sonst nämlich bei positiven Vorurteilen, die die Frauen betreffen, sagen, dass der Mann die Abweichung von der Norm ist.
Frauen die lächeln und der Zwangscharakter der Geschlechterrolle

Malu Dreyer
Fritzsche schreibt im Zusammenhang von Malu Dreyer, die als Spitzenkandidatin der SPD auf Wahlkamptour ist, folgendes:
„In warmrotem Blazer und schwarzer Bluse redet sie auf die Kamera ein: ‚Wir sind schon fast am Ziel. Am 13. März will ich mit euch allen feiern.‘ Fast nie sagt sie ‚ich‘, sondern vor allem ‚wir‘. Sie lächelt beim Sprechen so ausdauernd, dass ihre Mundwinkel immer nach oben zeigen. Im TV-Duell gegen Julia Klöckner wird sich zeigen, dass sie sogar lächelnd widersprechen kann. Und sie hat auch noch eine Steigerung des breiten Lächelns drauf ; die meisten ihrer Facebook-Ansprachen an ihre Wähler beendet sie mit einem Lächeln, bei dem sie noch die Nase kraus zieht. Mehr Freundlichkeit kann man auf der Fläche eines Gesichts nicht unterbringen. Lutz Meyer ist Politikberater und weiß um die Macht von Mundwinkeln. Im vergangenen Bundestagswahlkampf hat er Angela Merkel beraten, in Imagefragen. Manche nennen ihn seitdem auch den Kanzlerinnen-Macher. Von ihm habe sie gelernt, wie sie besser rüberkomme, heißt es. Meyer selbst hat in dieser Zeit auch etwas gelernt, nämlich dass der Faktor Frau so einiges verändert: ‚Frauen können nicht Wahlkampf machen wie Männer, aber sie dürfen es auch nicht als Frauen machen, sie sind was dazwischen. Sie sind in einer Rolle.‘ Das klingt erst mal nicht so schlimm. Dass Macht ihren Tribut fordert, ist klar, natürlich muss man etwas aufgeben. Ein echtes Privatleben, ein echtes Familienleben. Frauen müssen aber ein Stück von sich selbst aufgeben, ein bisschen »Ich«. Was das wirklich bedeutet, versteht man erst, wenn man Frauen eine Weile beim Wahlkampf zugesehen hat. So wie Julia Klöckner in der deutschen Provinz.“
Malu Dreyer hat also nicht „ich“ gesagt, sondern „wir“. Hmmm, ich könnte mir gut vorstellen, dass dies männliche wie weibliche Politiker vornehmlich so handhaben, zumal das „wir“ viel „volkstümlicher“ ist, es schliesst das Publikum mit ein und verhindert, dass Politiker als egoistisch wahrgenommen werden. Mir fällt dies speziell bei Interviews im Sport auf, insbesondere bei Mannschaftssportarten: Fussballspieler streichen nahezu nie ihre eigene individuelle Leistung heraus, sondern sie sprechen, wenn sie den Erfolg analysieren, meist vom Kollektiv, das für das Ergebnis verantwortlich war.
Gut, in der Politik müssen Frauen offenbar vermehrt ein lachendes Gesicht zeigen im Vergleich zu Männern, um positiv wahrgenommen zu werden. Freilich müssen die Männer mutmaßlich eher den „Haudegen“ und „Durchsetzungstyp“ markieren, sonst werden sie voraussichtlich schnell als Weichei und lahme Ente apostrophiert. „Hüben wie Drüben“ folglich entsprechende Vorgänge.
Ahaa! Frauen werden also in eine Rolle gedrängt, wenn sie sich als Spitzenkandidatin für ein Ministerpräsidentschaftsamt bewerben?! Und Männer? Die können so sein, wie es ihnen gerade beliebt – kein Rollenzwang, keine gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen: frei wie ein Vöglein?!
Was ist eigentlich eine Rolle? Im soziologischen Sinne versteht man ja unter einer Rolle ein Set von Zumutungen und Verhaltenserwartungen, die im Verbund von alltäglichen Interaktionen, gesellschaftlichen Normierungen und institutionellen Funktionserfordernissen das Verhalten der Menschen im Alltag und im gesellschaftlichen Leben mehr oder weniger stark strukturieren. Aus der Perspektive der Gesellschaft kann Sozialisation folglich als ein biografischer Vorgang bezeichnet werden, der die schrittweise Übernahme von Rollen gewährleistet: Kinderrolle, Schülerrolle, Ausbildungs- und Berufsrolle, unterschiedliche Mitgliedsrollen in Organisationen, Institutionen, Verbänden, Vereinen etc.
Organisationen und Institutionen sind sogenannt funktionalistisch ausgerichtet. Sie können im Allgemeinen auf die einzelne Persönlichkeit in ihrer gesamten Komplexität nicht Rücksicht nehmen, weil sie sonst ihrem Auftrag bzw. ihrer Funktion nicht mehr nachkommen könnten; deshalb werden ihre Mitglieder auf ihre Mitgliedsrollen verpflichtet bzw. zugerichtet. Männer wie Frauen sind infolgedessen, wenn sie im politischen System tätig sind, über ihre Mitgliedsrolle integriert und mit Verhaltenserwartungen konfrontiert, die sich dann eben in Berufs- und Mitgliedschaftsrollen ausdrücken; zusätzlich dazu kommen die Geschlechterrollen. Es kann insofern keine Rede davon sein, dass sozusagen nur Frauen, wenn sie als Spitzenkandidatinnen für ein Exekutivamt kandidieren, eine Rolle übernehmen müssen, sondern dasselbe gilt ebenso für Männer.
Die eigene Parteibasis als Herausforderung – insbesondere der alte Mann
Fritzsche schreibt:
„Für eine konservative Wahlkämpferin sind allein die eigenen Leute eine Herausforderung, zumal für eine wie Klöckner. Sie ist ehrgeizig, unverheiratet und kinderlos. Keine konservative Traumfrau. Trotzdem vollzieht sie das Kunststück, in einem Saal voller älterer Leute, in dem nichts so heftig beklatscht wird wie ihre Witze über das Binnen-I, einen Sieg zu verbuchen. Feuilletondebatten über 50/50, Vereinbarkeit und den neuen Mann sind hier ganz weit weg. Hier ist Ingelheim, hier sitzt der alte Mann – und der soll sie wählen. Klöckners Rede ist auf ihn zugeschnitten, egal wie weit sie sich vorwagt in Sachen Gleichberechtigung der Frau, Fremdbetreuung oder Flüchtlingspolitik, immer nimmt sie ihn mit.“
Für Klöckner ist offenbar die eigene Parteibasis bereits eine Herausforderung. Augenscheinlich haben die Parteibasis und die Elite der Partei andersgeartete Vorstellungen darüber, was Geschlechterfragen anbelangt. Da stellt sich immerhin die Frage, ob allenfalls Klöckner nicht in der falschen Partei ist oder sonst müsste sie eventuell die Parteibasis auswechseln, die anscheinend nicht zu ihrem politischen Programm passt.
In Ingelheim, der Provinz, sitzt sonach der alte Mann, der vermutlich nach Fritzsche vollständig irregeleitet ist, was die Geschlechterfrage anbelangt. Gibt es eigentlich in Ingelheim keine alten Frauen, die ansonsten Klöckner wählen könnten? Sind alte Frauen in der Provinz keine Herausforderung für Klöckner, sondern lediglich die alten Männer? Und Klöckner nimmt darum den alten Mann mit?! Zumal dieser ersichtlich noch hinter dem Mond ist, muss er gleichsam wie ein kleines Kind über die Strasse geführt werden. Man könnte, wenn man möchte, dies auch ein klein wenig als Infantilisierung und Maternalismus bezeichnen. Die gendersensible Spitzenkandidatin oder Journalistin wissen offensichtlich, was das Gute in Geschlechterfragen ist und helfen nun dem armen, alten Mann dazu, dass ihm doch noch auf die Sprünge geholfen wird.
Fritzsche schreibt:
„Mitunter führt das zu rhetorischen Figuren, die Pirouetten drehen müssen. ‚Manche sagen, früher war alles besser, da gingen die Frauen noch nicht arbeiten, sondern waren zu Hause, und die Kinder waren gut aufgehoben‘, sagt Klöckner, und es das hat etwas unfreiwillig Komisches, wenn sie, die supersmarte Berufspolitikerin, das sagt. Aber sie steht hier nicht als Frau, die führen will. Sie ist hier als Vermittlerin zwischen dem alten Mann und der Frau, die gewählt werden will.“
Ich könnte mir gut vorstellen, dass in vielen anderen Politikfeldern Politiker, wenn sie gewählte werden wollen, auch viele Pirouetten schlagen müssen, zumal in einer Volkspartei wie der CDU die Meinungen nicht stets konvergent sind.
Aufopferung der Frauen, die Männer nicht erbringen müssen
Fritzsche schreibt:
„Das andere ist: Was man sieht, wird nicht als Leistung wahrgenommen. Julia Klöckner hat sich, um sich für dieses Amt zu empfehlen, auch selbst optimiert. Sie hat stark abgenommen, zieht sich moderner an als früher, hat eine Frisur, die fernsehtauglich ist und halbwegs unkompliziert zu pflegen. Weiblich, aber nicht zu sehr. Selbst beim Haar scheint das das Motto zu sein. Während in Ingelheim alle Obazdn essen, Brezen und Kartoffeln mit Hering, bleibt sie bei grünem Salat. Das Weißbrot dazu gibt sie der Kellnerin gleich wieder mit. Das ist eine Aufopferung, wie Männer sie nicht erbringen müssen.“
Klöckner hat sich mithin für den Wahlkampf optimiert, indem sie 17 Kilogramm abgenommen hat. Woher weiss Fritzsche eigentlich, dass Klöckner dies aus Wahlkampf-Optimierungsgründen getan hat? Hat sie Klöckner darauf angesprochen oder ist dies bloss Spekulation? Könnte es nicht sein, dass dies Klöckner originär für sich gemacht hat? Gibt es überdies Untersuchungen darüber, dass vollschlanke Frauen schlechtere Chancen im politischen Wahlkampf haben im Vergleich zu schlanken Frauen?
Sogar die Kleidung und der Haarschnitt wurden folglich für den Wahlkampf optimiert! Hat Fritzsche beispielsweise einmal geklärt, welche Wandlung der frühere Aussenminister Joschka Fischer während seiner politischen Laufbahn durchgemacht hat: also vom Taxifahrer und Sponti bis zum Aussenminister. Hat sich Fritsche einmal die Ministerpräsidenten oder Bundesminister angeschaut, wie die aussehen? Die haben selbstverständlich alle lange und zerzauste Haare und laufen mit Jeans, Lederjacke und bequemen Turnschuhen herum – oder? Und dann gebraucht Fritzsche in diesem Zusammenhang auch noch das Wort „Aufopferung“. Könnte das eventuell und vielleicht nicht ein „Jammern auf höchstem Niveau“ sein? War die Journalistin Fritzsche in Aleppo, in einem Erdbebengebiet, bei Fabrikarbeitern, bei chronisch Kranken, Behinderten und Invaliden, beim Strassenbau, bei der Kanalreinigung, bei der Feuerwehr, bei der Polizei und den Sanitätern? Folglich bei denjenigen Menschen auf der Welt, die wirklich an Entbehrungen leiden oder Aufopferungen auf sich nehmen, weil sie helfen, Menschenleben zu retten oder alltägliche Arbeit zu verrichten, die dazu führen, dass sie vielfach im Alter von über 50-55 Jahren in frühzeitige Pension gehen müssen, weil ihr Körper durch die jahrlange Schufterei zerstört worden ist oder die elf Jahre früher sterben, weil sie den unteren sozialen Schichten/Milieus angehören.
Mediale Formate sind männlich geprägt
Fritzsche schreibt:
„Es ist die Wahrnehmung, die das Verhalten beeinflusst. Frauen in der Politik sind umgeben von Männern, wenden sich an männliche Entscheidungsträger, häufig über Medien, die männlich geführt sind und deshalb Formate zur Selbstdarstellung anbieten, die männlich geprägt sind. Lutz Meyer, dessen Aufgabe es war, dafür zu sorgen, dass Angela Merkel gut rüberkommt, hat ein Lieblingsbeispiel: das Fernsehduell. Natürlicherweise würden sich Frauen so nicht austauschen, sagt er; einander gegenüberstehend, kampfbereit, manchmal pöbelnd. Denn eigentlich würden Frauen inhaltsbezogener arbeiten, weniger Show, mehr Ergebnis. Ob das nun stimmt oder nur ein weiteres Klischee ist, wenn auch ein positives, ist beinahe egal. Was stimmt: Ein Duell ist ein Format, das Frauen nicht sympathisch wirken lässt, wenn sie sich verhalten, wie das Format es vorgibt: laut und aggressiv.
Bei einem Wahlkampf unter Männern gehört der Seitenhieb zum Ritual, in Rheinland-Pfalz wird er sorgfältig gemieden.“
Also: Aggressive und laute Frauen werden im Durchschnitt offenbar negativer bewertet als Männer mit vergleichbarem Verhalten. Aber auch hier gilt: Unterschiedliche Männer werden bei gleichartigem Verhalten eben auch unterschiedlich bewertetet: bei einem wird es heissen, er setze sich lautstark und tatkräftig für eine gute Sache ein und bei einem anderen wird es heissen, er sei einfach ein Schreihals. Ausserdem: Diejenigen Männer, die weniger zur Selbstdarstellung, Expressivität und Aggressivität neigen, werden von einem solchen Setting desgleichen abgeschreckt oder benachteiligt, zumal sie einem solchen Format nicht viel abgewinnen oder quasi nur schlecht abschneiden können.
Ein Flirt in der Bar als Ministerpräsidentin
Fritzsche schreibt:
„Eine deutsche Landesministerin erzählt in vertrauten Runden unter Frauen gern ihre gesammelten Erlebnisse von der Hotelbar. Wie den Männern, die sich gerade noch super engagiert auf den Barhocker neben ihr vorgearbeitet haben, das Gesicht zusammenfällt, wenn sie hören, wen sie da anflirten. Eine Ministerin? Und tschüss! Die traurige Pointe aus all den lustigen Anekdoten: Die Ministerin hat irgendwann angefangen, sich als Lehrerin auszugeben. Dann ging es. Zurück bleibt die Erkenntnis, dass die mächtige Frau immer eine ihrer Seiten verschleiern muss: tagsüber die Frau. Und abends die Macht.“
Jetzt können wir uns einmal als Kontrast die folgende Szene vorstellen: Die Landesministerin sitzt vergnügt in einer Bar und Ali, der nebenan in einer Dönerbude arbeitet, hat sich zur Landesministerin vorgekämpft. Ali ist eine kontaktfreudige und ehrliche Person und sagt gleich zu Beginn des Gesprächs, dass er nebenan bis jetzt in der Dönerbude gearbeitet habe und nach Feierabend meist noch hier in der Bar vorbeikomme, um ein bisschen abzuschalten, zu flirten und neue und nette Frauen kennenzulernen und ob er sie auf einen Prosecco einladen dürfe. Was denken sie Frau Fritzsche, wie hoch wird die Wahrscheinlichkeit sein, dass Ali und die Landesministerin in zwei Jahren ein glücklich verheiratetes Paar sind? 10 Prozent oder doch nur 1 Prozent? Ich vermute, die Wahrscheinlichkeit liegt unter 0,000001 Promille und diese geringe Wahrscheinlichkeit hat nicht nur mit Ali zu tun.
Positive Vorurteile über die Frauen
Fritsche schreibt:
„Denn verbindlich zu sein, an der Sache interessiert und pflichtbewusst – das alles sind positive Vorurteile gegenüber Frauen. Zu diesen Vorurteilen gehört auch die Annahme, Frauen seien zugänglicher. Es heißt, man öffne sich ihnen gegenüber eher, ja fühle sich geborgen. Das kann besonders dann ein Vorteil sein, wenn Menschen gerade das Gefühl haben, die Politik entferne sich von ihnen. Wenn Menschen sich nach Halt, nach Hilfe, nach Nachsichtigkeit sehnen. Frauen, die Macht haben, nutzen dieses Stereotyp.“
Eben! Auch Männer haben Nachteile gegenüber Frauen, weil Frauen vom Privileg des positiven Vorurteils profitieren können: also nicht nur Nachteile für Frauen, sondern auch Vorteile gegenüber Männern.
Fritzsche schreibt:
„Als authentisch wahrgenommen werden Frauen, wenn sie sich verhalten, wie man es von Frauen annimmt. Und es scheint, als hätten Malu Dreyer und Julia Klöckner sich entschieden, da mitzuspielen. Fleißig entsprechen sie den positiven Klischees.“
Das wird bei den Männern freilich genau so sein. Wenn sich Männer nicht so geben, wie man es bei ihnen voraussetzt, dann werden sie gewiss ebenso als nicht authentisch wahrgenommen wie die Frauen. Infolgedessen werden Männer, wenn sie ihre Chancen bei einem Wahlkampf verbessern wollen, analog wie Frauen, positive Vorurteile bedienen.
Fazit
Der Text von Fritzsche zeigt sehr gut auf, dass man ein verzerrtes Bild von einer Gesamtsituation erlangt, wenn der Blick gewissermaßen nur auf die Privilegien/Vorteile der Männer und die Nachteile der Frauen gerichtet wird. Ausserdem bekommt man den Eindruck, dass diesen Eliten-Frauen grösstes Unrecht mittels der Gesellschaft angetan wird und diese grösste Opfer erbringen müssen, damit sie überhaupt den Olymp der Eliten erreichen können. Selbstverständlich darf man auch Benachteiligungen innerhalb der politischen Elite aufzeigen, aber man sollte nicht so tun, als wäre dies quasi der grösste Skandal der Welt, wenn 0.000001 Prozent der Bevölkerung, also die Elite, davon betroffen ist. Deshalb: Jammern auf höchstem Niveau scheint momentan im hegemonialen Feminismus on vogue zu sein
Ich werde diesen Beitrag der Journalistin Lara Fritzsche zukommen lassen, und es würde mich freuen, wenn sie sich hier auf diesem Blog oder in einer privaten E-Mail-Korrespondenz dazu äussern würde.
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