Nachruf auf ein absurdes, gewaltsames Jahr
Von der Lügenpresse zu Fake News
„Lügenpresse“: Der Begriff war ja eigentlich schon erledigt, weil ihn die „sprachkritische Aktion“ zum Unwort des Jahres 2014 erklärt hatte. Es handle sich dabei nämlich, so die vorwiegend aus Sprachwissenschaftlern zusammengesetzte Jury der Aktion, „um einen nationalsozialistisch vorbelasteten Begriff“.
Das Wort wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts regelmäßig in öffentlichen Debatten verwendet, in der Weimarer Republik von Sozialisten und Kommunisten, nach dem Zweiten Weltkrieg von der Staatsführung der DDR und davor tatsächlich auch von den Nationalsozialisten. Das allerdings war vielen späteren Benutzern des Wortes, einschließlich denen aus Pegida-Gruppen, wohl kaum bewusst.
Tatsächlich drückt der Begriff pauschale Ressentiments aus und erweckt zudem den Eindruck, wir wären noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen. Ein Ausdruck von Ressentiments ist es aber auch, Menschen als Nazis hinzustellen, nur weil sie das Gefühl formulieren, Medien würden kein zutreffendes Bild der sozialen und politischen Wirklichkeit zeichnen.
Im Jahr 2016 jedenfalls stand der Begriff dann plötzlich wieder auf, als wäre nichts gewesen. In seiner englischen Version „Fake News“ wurde er von Regierungsparteien verwendet und soll nun zur Grundlage neuer Gesetze werden, die eine Verbreitung falscher Nachrichten unter Strafe stellen.
Natürlich muss noch das kleine Problem geklärt werden, wer eigentlich Fake News von wichtigen vertrauenswürdigen Informationen unterscheidet. Steht beispielsweise die beliebte, aber haltlose Rede vom „Gender Pay Gap“ künftig unter Strafe? Und weiß Manuela Schwesig das schon?
Fake oder Lügen sind wohl jeweils einfach die Positionen, die vom politischen Gegner vertreten werden. Hat sich eigentlich irgendjemand zwischendurch Gedanken darüber gemacht, was die AfD mit einer solchen Gesetzgebung anfangen könnte, wenn sie irgendwo einmal an die Macht kommen sollte?
Auch diese Debatte ist ein „Kennzeichen der tribalisierten Verhältnisse“, von denen der Soziologe Armin Nassehi zum Jahresende im taz-Interview sprach. Natürlich können gezielt eingesetzte Falschnachrichten gefährlich sein. Das Vertrauen aber ist verloren gegangen, dass solche Falschinformationen im Forum einer allgemeinen und offenen Debatte korrigiert werden könnten. Stattdessen stehen sich Stämme gegenüber, die ihre Debatten nicht miteinander, sondern jeweils intern führen – und die sich von abweichenden Meinungen nicht mehr korrigieren lassen, weil sie die ohnehin als lügenhaft wahrnehmen.
Mit Hate Speech gegen den Hass. Oder umgekehrt
Im vergangenen Jahr verloren überraschend viele Menschen überraschend selbstverständlich den Sinn dafür, dass es in einer Demokratie wesentlich ist, verschiedene Perspektiven und unterschiedliche Interessen auf eine halbwegs friedliche Weise miteinander zu vermitteln. Im tribalisierten Denken geht es nicht um eine solche Vermittlung, sondern darum, dass die Guten – das sind wir – sich gegen die Bösen durchsetzen.
Also förderte die Bundesministerin Manuela Schwesig eine Aktion, die sich gegen Hate Speech im Netz wendet – beispielsweise, indem sie Männer lächerlich macht, lustige Bilder von Axtmördern veröffentlicht, originelle Kastrationsanspielungen lanciert oder Kritikern des islamischen Kopftuchs pauschal Feindseligkeit unterstellt.
Der Minister Heiko Maas wiederum setzte Facebook unter Druck, Hate Speech zu löschen. Eines der ersten Opfer war Anabel Schunke, die von Johannes Boie in der Süddeutschen Zeitung als „eine konservative und vom Ton her hemdsärmelige Publizistin“ vorgestellt wird.
Schunke hatte es sich unüberlegt herausgenommen, eine gegen sie gerichtete Vergewaltigungsdrohung zu veröffentlichen. Da aber diese Drohung dem Augenschein nach von einem muslimischen Mann stammte, entschied Facebook wohl, die Veröffentlichung könne Muslime insgesamt in schlechtem Licht erscheinen lassen. Schunke wurde von Facebook gesperrt.
Feministinnen pflegen ja seit Jahren den Begriff „Rape Culture“: die Unterstellung, dass wir in einer Kultur leben würden, die Vergewaltigungen von Frauen systematisch ermöglicht, die sie verharmlost und die gar zu ihnen ermutigt. Dass eine Frau in sozialen Medien gesperrt wird, weil sie eine gegen sich gerichtete Vergewaltigungsdrohung öffentlich macht, ist der beste – genau genommen sogar der einzige – Beleg für eine Vergewaltigungskultur, den ich kenne. Wie empört und nachdrücklich reagierten also Deutschlands Feministinnen?
Gar nicht reagierten sie. Sind Vergewaltigungsdrohungen etwa für die Aufschrei– und Ausnahmslos-Aktivistinnen ganz okay, solange sie nur von den richtigen Leuten kommen (keine weißen heterosexuellen Männer) und die richtigen Frauen treffen (antiemanzipatorische Kräfte, irgendwie)?
Diese Frage aber ist ohnehin nur das Problem einer kleinen Gruppe von Aktivistinnen, die wohl keine Bedeutung hätten, wenn sie von öffentlichen Institutionen nicht protegiert würden. Gravierender ist: Die Willkür des Vorgehens ist kein Zufall. Wer so tut, als würden die verfügbaren juristischen Kriterien für Verleumdungen, Bedrohungen, Beleidigungen, üble Nachrede, Volksverhetzung und weiteres nicht ausreichen – und wer dann den diffusen Begriff der Hate Speech ins Zentrum stellt – der produziert solche Willkür systematisch.
Es geht ihm nämlich nicht um allgemein nachprüfbare Kriterien, die allgemein und alle gegen Aggressionen schützen – sondern um eine Infantilisierung des Politischen, in der sich die Kräfte der Liebe und die des Hasses gegenüberstehen.
Wer ist Schuld an Trump?
Diese Logik der Feindschaft prägte auch den amerikanischen Wahlkampf, in dem sich zwei Kandidaten begegneten, die jeweils für die Anhänger des anderen Lagers vollkommen unerträglich waren. Im besten Rant des Jahres stellte Jonathan Pie klar, warum nicht etwa Donald Trump die Wahl gewonnen, sondern Hillary Clinton sie verloren hatte.
Clinton hatte Trumps Anhänger als „basket of deplorables“, als „Korb der Kläglichkeiten“ abgetan und sich auch sonst viel Mühe gegeben, den Endruck zu erwecken, dass sie vom Leben der meisten Amerikaner keine Ahnung hat und dass es sie auch nicht interessiert.
Einen „war against women“, einen Krieg der Männer gegen die Frauen, beschwört sie schon seit Jahren. Wie aber hätte sie damit rechnen können, dass jemand sie einfach nicht mehr zur Präsidentin wählt, nur weil sie ihn zuvor zum Feind erklärt hat? So nachtragend zu sein ist wohl eine typisch männliche Eigenschaft – jedenfalls interpretierten viele Anhängerinnen Clintons Wahlniederlage schlechtgelaunt und schnappatmend als Beweis für eine allseits waltende Frauenfeindlichkeit.
Dabei hatten unter den weißen Amerikanern auch Frauen mehrheitlich für Trump gestimmt. Das, immerhin, ist lehrreich: Wenn die Männer aussteigen und eine Politik, die sie zu Feinden erklärt, nicht mehr unterstützen – dann ziehen auch die Frauen nach. Statt im Geschlechterkrieg leben die meisten Männer und Frauen nun einmal in Bedingungen, in denen sie aufeinander angewiesen sind. Auch Frauen fällt auf, dass das, was ihren Männern schadet, eher früher als später auch ihnen selbst und den gemeinsamen Kindern schadet.
Wie aber hätte Hillary Clinton damit rechnen sollen, dass sie das merken?
Zum Anfang ein Ende
In Deutschland wiederum begann das Jahr mit dem Ende der Willkommenskultur. Dieser Begriff, zuvor zentral in der öffentlichen Rede, wurde nach den massenhaften sexuellen Übergriffen durch Flüchtlinge und andere Migranten in der Kölner Silvesternacht kaum noch verwendet – es sei denn, mit zynischem Unterton.
Hätten sich diese Übergriffe zum Jahreswechsel 16/17 wiederholt, dann wäre das eine politische Katastrophe gewesen. Im Mittelpunkt vieler Kommentare zum Polizeieinsatz, der diese Wiederholung wohl verhinderte, standen dann aber der Vorwurf des „racial profiling“ und eine unglückliche Wortwahl: der Begriff „Nafri“ für „nordafrikanische Intensivtäter“.
Dieser Begriff ist, so Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung, tatsächlich eine „Vorverurteilung“ – dass ein Mensch ein Täter ist, ist ihm schließlich nicht an seiner Hautfarbe anzusehen. Er ist aber eben auch „eine Debatte am falschen Ort zur falschen Zeit und zum falschen Anlass“, sich angesichts eines sehr wichtigen Polizeieinsatzes auf eine unpassende Wortwahl zu konzentrieren.
Möglich wäre es ja auch, zur Abwechslung einmal auf reale Geschehnisse zu schauen und nicht nur auf ihre sprachliche Repräsentation. Die Silvesternacht 2015/16 hatte Deutschland verändert, der Flüchtlingspolitik alle optimistische Grundstimmung genommen und die Situation von Muslimen in Deutschland deutlich prekärer gemacht. Nun sieht es danach aus, dass tatsächlich Hunderte von Menschen so strunzbescheuert waren, dieses Ereignis gleich bei der nächsten Gelegenheit wiederholen oder es womöglich gar übertreffen zu wollen.
Dass solch ein Verhalten etwas mit dem Islam und seinem Geschlechterbild zu tun hat, mag gut sein – wichtig ist aber vor allem: Die Gewalttäter von Köln agierten im Rahmen einer autoritären Logik, aus deren Perspektive die Freiheiten einer immer noch halbwegs offenen Gesellschaft lediglich als Zeichen von Schwäche erscheinen. Vielleicht könnten die Kritiker des Einsatzes zumindest zugestehen, dass die Polizei angesichts eines solchen Verhaltens vor einem Dilemma stand, weil sie eine Wiederholung befürchten und unbedingt verhindern musste.
Denn was ist eigentlich mit Linken los, die angesichts eines tief reaktionären Autoritarismus lediglich mit Schutzinstinkten und Verständnisbereitschaft reagieren? Die Gewalttäter der Kölner Domplatte vom vergangenen Jahr sind erwachsene Menschen, die wissen, was sie tun – keine kleinen Kinder, die darauf warten, von emanzipatorischen Kräften adoptiert und in Awareness-Kursen zu gendergerechtem Verhalten erzogen zu werden. Antirassismus kann offensichtlich so gönnerhaft daherkommen, dass er in Rassismus umschlägt.
Als „dünnes Argument“ beschreibt Christian Bangel in der Zeit jedoch den Hinweis, dass der Polizeieinsatz „funktioniert“ hatte, und er unterstellt der Polizei indirekt Rassismus. Dass etwas in der Realität funktioniert, legitimiert tatsächlich nicht alles, es ist aber ungeheuer wichtig. Würde die Polizei demonstrieren, dass sie die öffentliche Ordnung nicht mehr schützen kann – dann wäre das Resultat ja kein herrschaftsfreier Diskurs. Stattdessen würden sich einerseits Gewalttäter ermutigt fühlen, und andererseits würden sich Bürgerwehren bilden, um auf eigene Faust die verlorene Ordnung wieder herzustellen. Wie realitätsentrückt wäre es, solche Zustände zu riskieren, nur um dem Vorwurf des „racial profiling“ zu entgehen?
Und was hätte das eigentlich mit linker Politik zu tun?
Helmut Schmidt war plötzlich wieder Kanzler
Nach dem brutalen Massenmord auf dem Berliner Weihnachtsmarkt wurden plötzlich Reden aus den siebziger Jahren wieder populär: Ansprachen Helmut Schmidts zum Terrorismus der RAF. Eigentlich müsste es heutige Politiker nachhaltig beunruhigen, dass Menschen in dieser Situation Zuflucht bei einem Mann suchten, der kurz vor Beginn des Jahres 2016 starb und der vor vielen Jahrzehnten einmal Kanzler war.
Die Erklärung ist wohl relativ einfach: Schmidt erweckt den Eindruck, realitätsgerecht zu agieren und seine Verantwortung wahrzunehmen – und diesen Eindruck erwecken Politiker der heutigen Bundesregierung nicht. Auch nicht die Kanzlerin.
Die nahm sich aus der Verantwortung, als sie den Massenmord als eine „letztlich unbegreifliche Tat“ beschrieb. Das war er zwar keineswegs – aber der Terror erscheint so als ein unberechenbarer Einbruch in eine wohlgeordnete Welt, auf den Kanzlerin und Regierung unmöglich vorbereitet sein konnten. In dem Moment, in dem eine realitätsgerecht agierende Kanzlerin ungeheuer wichtig gewesen wäre, suchte Merkel Zuflucht beim Unerklärlichen.
Wir haben Fakten – die anderen haben nur Fakes

Eine Frau eines Polizeibeamten schreibt bei Facebook an die Grünen-Chefin Simone Peter, die zuvor den Polizeieinsatz in Köln scharf kritisiert hatte. So wichtig Kritik an Polizeieinsätzen sein kann: Der Brief ist ein bezeichnendes Beispiel dafür, dass sich auch Menschen aus der bürgerlichen Mitte politisch nicht mehr wahrgenommen sehen.
Bei näherer Betrachtung war die Politik des Jahres ohnehin von einem magischen Denken geprägt – von der Überzeugung nämlich, die Welt würde sich umgehend verändern, wenn wir nur das richtige Wort für sie fänden. „Lügenpresse“ war falsch, aber „Fake News“ war richtig. Wer von „Hate Speech“ redet und Herzchen malt, schafft damit die Aggressionen aus dem Netz. Die enorme Arbeit der Polizei wurde zur Nebensache, weil „Nafri“ ein falscher Begriff ist.
Mit dem Wort „postfaktisch“, laut der Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort des Jahres, bezeichnete Merkel Menschen, die sich angeblich nicht mehr um Realitäten kümmern. Ironischerweise ist dieser Begriff jedoch selbst eines der Zauberworte, mit denen sich Politik im magischen Denken verstrickt.
Die Fixierung auf Wörter nämlich und das Desinteresse an sozialer Wirklichkeit hängen unmittelbar mit der tribalisierten Struktur der politischen Landschaft zusammen. Es gibt eben keine gemeinsame Wirklichkeit mehr, auf die sich bei allen unterschiedlichen Interessen und Perspektiven alle gemeinsam beziehen könnten. Es gibt lediglich stammesinterne Diskurse, in denen sich jeweils alle Beteiligten gegenseitig versichern, im Recht zu sein: Wir haben Fakten – die anderen haben nur Fakes.
Die Zauberwörter, die politisch verwendet werden, erfüllen wohl vor allem die Funktion, den Einbruch sozialer Realitäten in solche tribalisisierte Selbstbezüglichkeiten so lange wie möglich abzuwehren. Es ist davon auszugehen, dass das am Ende ebenso prima funktionieren wird wie der Wahlsieg Hillary Clintons, von dem vorher ja bekannt war, dass er eigentlich nur eine Formsache ist.
Aber dass etwas funktioniert, ist ja, wie wir zum Glück wissen, ohnehin eher nebensächlich.
Um dem Text trotz allem einen versöhnlichen Abschluss zu geben, folgt hier aber noch etwas echte Magie: ein Beleg dafür, dass es tatsächlich möglich ist, ein Lied von Leonhard Cohen besser zu singen als Cohen selbst.
Es ist aber meines Wissens auch weltweit der einzige Beleg dieser Art.
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