…und hört ihnen stattdessen ab und zu einmal zu
Am 3. März veröffentlichte ein Nutzer bei Twitter ein Foto von einer Geschichte aus einem Deutschbuch für die zweite Klasse – mit dem Kommentar, dadurch sei sein „Glaube an die Menschheit wieder hergestellt“ worden. Heute, nicht einmal zwei ganze Tage später, hat der Tweet über 6600 Likes erhalten und wurde sogar Grundlage eines Artikels in der Huffington Post. Dort findet sich auch der vollständige Text.
Ich habe bei Twitter ein paar Mal versucht zu beschreiben, warum ich die Geschichte überhaupt nicht schön, sondern kitschig und autoritär finde. Allerdings unterstützt sie ein Familienbild, das nach gängiger politischer Sitzordnung als progressiv gilt – daher hatten wohl einige Mitdiskutanten den Eindruck, ich würde sie kritisieren, weil mir ein konservatives Bild lieber wäre.
Tatsächlich aber geht es um etwas ganz anderes, nämlich um ein herablassendes und seltsam gefühlloses Verhalten von Erwachsenen gegenüber Kindern, das sowohl einen progressiven wie einen konservativen Hintergrund haben kann – und das Kindern in keinem Fall gerecht wird.
Fabian vermisst seine Mutter – und muss verstehen, dass er damit falsch liegt
Da die Mutter bis zum Freitag verreist ist, erzählt der kleine Fabian am Frühstückstisch traurig, dass sein Vater, die Schwester Franziska und er „gar keine richtige Familie mehr“ seien. Franziska aber berichtet von einem Mädchen, das nur noch einen Vater und keine Mutter mehr habe – und der Vater der Kinder macht schnell deutlich, das auch das eine „ganz richtige Familie“ sei.

Ist das nun klischeehaft, empowernd oder einfach bescheuert? Ein rosafarbenes Mädchenshirt einer Marke, die sich politisch progressiv gibt und die ausgerechnet Lookhuman heißt.
Die Kinder erzählen dann noch von einem Jungen mit „zwei Mamas“, von Kindern mit „zwei Mamas und zwei Papas“, einem Jungen, der „eine Mama und eine Oma“ hat, und von zwei Kindern, die gar keine Eltern mehr hätten und bei den Großeltern lebten.
„’Ist das eine richtige Familie?’, fragt Fabian.
‚Aber ja’, antwortet Papa.
‚Alle, die sich lieb haben
und füreinander sorgen, sind eine Familie.’“
So endet die Geschichte, die damit beginnt, dass ein Junge seine Mutter vermisst – und die darin ausläuft, dass der Vater eine allgemeine Definition des Begriffs „Familie“ liefert. Warum sollte jemand an einer solchen Geschichte etwas auszusetzen haben – wenn er denn nicht auf einem konservativen Familienbild besteht, nach dem ausschließlich die Konstellation Vater-Mutter-Kinder eine Familie bilden könne?
Mir fielen die Geschichte und die vielen begeisterten Kommentare dazu auf, weil ich den Eindruck hatte, dass sich darin allgemeine Schwierigkeiten des Umgangs Erwachsener mit Kindern zeigen.
Offenbar merkt beispielsweise keiner der begeisterten Leser, dass der Junge traurig ist, seine Mutter vermisst – und dass diese Gefühle für den Rest des Textes überhaupt keine Rolle mehr spielen, obwohl sie die ganze Geschichte überhaupt erst motivieren. Dass Fabian findet, seine Schwester, sein Vater und er seien gar keine richtige Familie mehr, wird ganz selbstverständlich nicht als Ausdruck seiner Trauer gewertet – sondern als Statement für ein konservatives Familienbild, das im Rest des Textes korrigiert werden müsse.
Damit aber sind Erwachsene – der Vater in der Geschichte ebenso wie die begeisterten Leser – ganz in ihren eigenen, politischen Angelegenheiten vertüdelt und nehmen den Jungen faktisch nicht mehr wahr, und ohne es überhaupt zu merken, dass sie ihn nicht wahrnehmen.
Wer schon einmal nebenbei, und sei es nur für fünf Minuten, etwas von Familiensystemen gehört hat, der weiß auch: Aus einem System kann kein wichtiger Aspekt entfernt werden, ohne dass die gesamte Struktur des Systems aus dem Gleichgewicht gerät und sich ändern muss. Dasselbe gilt, wenn ein Teil hinzugefügt wird – es wird nicht einfach angedockt, sondern strukturiert das gesamte System neu. Familien, die ein zweites oder drittes Kind bekommen haben, könnten darüber viel erzählen.
Wer also glaubt, Systeme ließen sich beliebig neu- und umdefinieren, dem fehlt der Sinn für wesentliche Strukturen des Lebens und des Zusammenlebens. Der kleine Fabian drückt hier eben einfach nur aus, dass er die Mutter vermisst – der Lesebuchtext aber geht mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit darüber hinweg und erweckt den Eindruck, die Trauer würde lediglich aus einer unvorteilhaften familienpolitischen Überzeugung des Kleinen resultieren.
So gefühllos könnten Erwachsene natürlich auch aus einer konservativen Position heraus agieren. Wer zum Beispiel davon überzeugt ist, dass homosexuelle Männer keine guten Väter oder lesbische Frauen keine guten Mütter sein können – der wird sich möglicherweise ebenso politisch borniert über die Bedeutung hinwegsetzen, die Eltern für ein Kind haben.
Das wird nur noch deutlicher angesichts der Tatsache, dass die fehlenden Eltern bei den meisten der genannten Kinder ja nicht nur bis zum kommenden Freitag verreist, sondern möglicherweise tot sind oder die Familien verlassen haben. Eben das ist den begeisterten erwachsenen Lesern auch ganz bewusst – ginge es hier tatsächlich ganz allgemein nur um eine kurze Abwesenheit der Mutter, dann müssten daran schließlich keine Grundsatzfragen zu Familienmodellen diskutiert werden.
Wie aber sähe der Text aus, wenn die Mutter nicht nur bis zum Freitag verreist wäre?
„Es ist so schlimm, dass Mama tot ist!“ – „Ach, macht doch nix. Sind wir halt eine Ein-Elter-Familie.“
Damit, dass der Junge im Text seine Trauer ausdrückt, wird er zum bloßen Stichwortgeber für politische Stellungnahmen Erwachsener, die für ihn vermutlich ganz irrelevant sind – sie bringen ihm die Mutter ja nicht zurück. Tatsächlich ist dieser Text gar nicht für Kinder geschrieben, sondern dient der Selbstberuhigung Erwachsener. Er steht zwar in einem Lesebuch für Grundschulen – aber es ist ein Text, in dem sich Erwachsene über die Köpfe von Kindern hinweg miteinander verständigen.
Zaunpfähle in blau und rosa – oder umgekehrt
Ebenfalls am 3. März berichtete der Spiegel über die Verleihung des „Goldenen Zaunpfahl“ 2017, mit dem „das Produkt oder die Werbung, die am schlimmsten mit Geschlechterklischees spielt“, gekürt werden. In der Jury für diesen „Negativpreis für Sexismus“ sitzt ironischerweise unter anderem die Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski, die in ihren wöchentlichen Texten regelmäßig viel Erfahrung mit der Produktion von Geschlechterklischees sammelt.
In diesem Jahr wird der Klett-Verlag mit dem Goldenen Zaunpfahl ausgezeichnet – für Geschichten zum Lesenlernen, die sich in einer Version an Jungen, in einer anderen Version an Mädchen richten.
Tatsächlich sind die Bücher enorm klischeehaft aufgemacht. Das Jungenbuch ist in blau gehalten und zeigt einen Polizisten, Piraten und einen Außerirdischen auf dem Titel – das Mädchenbuch benutzt statt blau rosa und zeigt eine Prinzessin im rosa Kleid, dazu natürlich ein Pferd und einige andere Tiere sowie aus nicht so recht ersichtlichen Gründen einen rosafarbenen Mixer.
Die Bloggerin und Autorin Antje Schrupp schreibt zum Goldenen Zaunpfahl in der Zeit in ihrem Artikel Gegen den Geschlechterblödsinn:
„Wir sollten das zugeben: Indem wir Gendermarketing tolerieren, zementieren wir Rollen, behindern wir Kinder in ihrer freien Entfaltung. Wir machen es ihnen schwer, zu ihren eigenen, individuellen Vorlieben und Stärken zu finden, indem wir sie schon als Babys darauf trimmen, dass sie als Mädchen dies und als Jungen das zu wollen hätten. Und dafür gibt es eigentlich nur eine logische Erklärung: dass es uns letztlich egal ist. Unsere Kinder sind uns egal. Wir legen keinen Wert darauf, dass sie ihre persönlichen Vorlieben frei und offen herausfinden.“
Ich finde es absolut bedenkenswert, was Schrupp hier schreibt, und erkläre auch gleich, wieso ich das finde. Vorher aber muss ich noch eine Verwirrung loswerden. Eben diese Antje Schrupp ist eine der einflussreichsten Differenzfeministinnen des Landes, sie arbeitet sich in ihren Texten ab an Unterschieden zwischen Männern und Frauen und tritt auch schon mal dafür ein, dass Rechte – sogar Menschenrechte – geschlechtsspezifisch unterschiedlich zugeteilt werden sollten. Warum ist nun ausgerechnet sie gegen den „Geschlechterblödsinn“?
Zum Vergleich ein ganz anderes Beispiel von „Gendermarketing“ – eine „Weltgeschichte für Leserinnen“, ebenfalls zufällig am 3. März dieses Jahres erschienen.
Das Geschichtsbuch richtet sich ausdrücklich an Mädchen und hat das Ziel, die Weltgeschichte „um all ihre vergessenen Heldinnen“ zu ergänzen. Warum das für Jungen uninteressant sein sollte, weiß ich auch nicht.
Auch dieses Buch benutzt Geschlechterklischees, dreht sie nur um: Es ist in blau gehalten, und Frauen erscheinen hier als aktiv und heldenhaft, nicht als passive Damsels in Distress. Ist das nun ein positives Gegenbeispiel gegen die Bücher aus dem Klett-Verlag, weil es zwar auch Geschlechterklischees verwendet, aber auf die richtige Weise?
Gerade eine feministisch inspirierte Politik sortiert die soziale Wirklichkeit entlang von Geschlechterkategorien – sei es in der Besetzung von Gleichstellungsbeauftragten, in Quotenregelungen oder in der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Zuteilung basaler Rechte.
Das reicht unerschrocken bis ins Deppert-Kuriose. Wer als Mann bei Veranstaltungen der Grünen ein Rederecht erhalten möchte, gerät manchmal in die Situation, erst einmal eine Frau finden zu müssen, die pro forma einen kleinen Satz sagt – weil er als Mann nämlich kein Rederecht hat, wenn nicht ebenso viele Frauen wie Männer sprechen.
Befürworter des Gender Mainstreaming betrachten Geschlechterkategorien auch schon einmal als „omnirelevant“, was diesen Kategorien bei Licht betrachtet eine Stellung verleiht, die früher allein Gott vorbehalten war: Worum es auch immer geht, es ginge immer zugleich auch um Geschlechterkategorien.
Die Gender Forschung hätte große Schwierigkeiten, öffentliche Mittel zu akquirieren, wenn sie nicht in den Parteien viele Akteure vorfände, die an eben diese „Omnirelevanz“ von Geschlechterkategorien glauben.
Wer aber gewohnheitsmäßig die soziale, politische, ökonomische, wissenschaftliche und juristische Welt nach Geschlechtern sortiert – der muss eben damit leben, dass früher oder später auch andere politische Akteure auf diese Sortierung zurückgreifen, sie aber anders interpretieren. Das Problem der Jury, die den Goldenen Zaunpfahl zuteilt, ist nicht die Verwendung von Geschlechterklischees – sondern dass es in ihren Augen des falschen Geschlechterklischees sind, die verwendet werden.
So ist denn das Gender Marketing nicht etwa ein Backlash gegen Gender Mainstreaming, Gender-Feminismus und Gender Studies, sondern ein Teil derselben Familie. Gleichsam ein ungezogener Verwandter, der nie so recht einsehen möchte, worum es der Familie eigentlich geht.
Autoritär von rechts und links
Einengend für Kinder können aber alle diese Richtungen sein. Ein Vater beispielsweise berichtet schuldbewusst darüber, dass er in seiner Erziehung seiner Tochter gegenüber versagt habe, weil sie gern mit rosafarbenem Spielzeug spiele. Als ob sie damit etwas Schlimmes täte.
Wissenschaftlerinnen der Fachhochschule Erfurt entwickeln aus öffentlichen Mittel und mit einer studentischen Gruppe zusammen ein Computerprogramm für Schulen, in dem Jungen lernen sollen, dass sie in ihren traditionellen Rollen grundsätzlich respektlos, gewalttätig, aggressiv und dominant wären. Natürlich ist das Programm dann gern beim Umlernen behilflich.
Die offenkundigen schulischen Nachteile von Jungen werden durch einige gendergeübte Wissenschaftler pauschal mit typisch männlichem, aber in der Schule deplatziertem Dominanzverhalten wegerklärt.
Auch solche Positionen engen Kinder ein. Unser Sohn beispielsweise erklärt ausdauernd schon seit Jahren, dass die Farbe rosa seine Lieblingsfarbe wäre – gefolgt von der Farbe lila. Dass ihm ab und zu einmal ein Klassenkamerad gesagt hat, rosa sei eigentlich keine Jungenfarbe, interessiert ihn nicht. Wenn ich ihn frage, ob er lieber ein grünes Drachenbad oder eher ein rosafarbenes Prinzessinnenbad hätte, bevorzugt er mal das eine, mal das andere.
Er hat aber auch lange und mit enormer Begeisterung Fußball gespielt. Als wir einmal ein Buch gelesen haben, in dem – politisch korrekt – etwa die Hälfte der Kinder im Fußballverein Mädchen sind, bemängelte er sofort, dass das nicht stimmen würde. Auch dort, wo Jungen und Mädchen noch zusammen spielen, ist nämlich nur ungefähr jedes zwanzigste Kind weiblich.
Mittlerweile spielt er Schach, und zwar so gut, dass ich kaum noch eine Chance gegen ihn habe. Aber natürlich merkt auch er bei Tournieren und Meisterschaften, dass Schach weitgehend eine Jungen- und Männerangelegenheit ist. Warum auch immer.
Es wäre falsch, ihn in der einen oder anderen Richtung zu begrenzen. Ob er nun Klischees erfüllt oder Klischees konterkariert – er muss sich in einer Erwachsenenwelt orientieren, die es ihm nicht leichter macht, wenn sie ihm dabei willkürlich Möglichkeiten verweigert.
Allerdings sind Kinder – das merke ich vor allem als Lehrer – tendenziell konservativ, und das mit gutem Grund. Schließlich sind sie existenziell von Erwachsenen abhängig und darauf angewiesen, dass diese Erwachsenen eine zumindest halbwegs stabile Ordnung in ihrem Leben gefunden haben. Sie sind insbesondere davon abhängig, dass diese Erwachsenen sich zumindest grundsätzlich darüber bewusst sind, welche Konsequenzen ihre Entscheidungen für ihre Kinder haben.
Es wird Kindern nicht gerecht, wenn stattdessen Erwachsene progressiver oder konservativer Überzeugungen Kinder nach ihrem politischen Bilde formen wollen. Anstatt Kindern zuzuhören und ihre Situation zu realisieren, leben Erwachsene damit ihre eigenen Kämpfe, ihre Borniertheiten und Orientierungslosigkeiten an ihren Kindern aus.
Natürlich sind Erwachsene – wie in der eingangs zitierten Geschichte – immer in der Situation, damit das letzte Wort haben zu können. Die Fragen von Kindern aber sind damit noch lange nicht beantwortet. Ob nun in progressiver oder konservativer Version, ist diese Haltung vor allem – autoritär.
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