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Sexueller Missbrauch als Welterfolg

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Ein Rückblick auf Fifty Shades of Grey

Der gigantische Erfolg der Trilogie Fifty Shades of Grey, deren zweite Verfilmung im Februar in die Kinos kam, ist vor allem aus einem Grund interessant: Er ist ein eindrucksvolles und bedrückendes Beispiel dafür, wie teilnahmslos mit dem sexuellen Missbrauch von Jungen – und dem sexuellen Missbrauch durch Frauen – umgegangen wird. Gerade weil der große Hype um den Film vorbei ist, lohnt sich ein ruhiger Rückblick. Außerdem wird es Zeit, dass sich auch einmal Männer mit dieser seltsamen Geschichte beschäftigen…

Ich fahre nun schon seit Jahren jeden Monat ungefähr 2000 Kilometer mit der Bahn. Vor einigen Jahren fiel mir über viele Wochen hinweg ein seltsames Phänomen auf: In jedem Großraumwagen, in dem ich fuhr, saß mindestens eine Frau, die den Roman Fifty Shades of Grey las. Immer Frauen – niemals Männer, und dies über Monate hinweg.

Die offiziellen Zahlen bestätigen den Eindruck. Von der Trilogie wurden weltweit etwa 100 Millionen Exemplare verkauft, in Deutschland allein 5,7 Millionen. In Großbritannien war der erste band noch vor allen Harry Potter-Büchern das schnellste jemals verkaufte Taschenbuch.

Die Verfilmung des ersten Teils spielte weltweit 567,9 Millionen Dollar ein, in den USA startete er besser als die Hunger Games-Verfilmung, in Deutschland erlebte er den besten Filmstart seit dem James Bond-Film Skyfall.  Der zweite Teil hatte in Deutschland bis am ersten Wochenende schon über eine Million Besucher – oder eher: Besucherinnen.

Wie aber passt dieser gigantische Erfolg zu einer Handlung, die um eine jahrelange Erfahrung des sexuellen Missbrauchs kreist – nämlich um die sexuelle Zurichtung eines pubertierenden Jungen durch eine erwachsene Frau? Die deutschsprachige Bloggerin Volksverpetzer, auf deren Text Arne Hoffmann hinweist,  schreibt zum Start des zweiten Films:

Bücher und Filme wie 50 Shades of Grey marginalisieren einerseits sexuellen Missbrauch und laden andererseits krankhaftes Verhalten mit sexuellen Fantasien auf.

Daran zeige sich, „wie wenig männliche Missbrauchsopfer ernst genommen werden“.

Schon zum Start des ersten Films hatte Lisa Ludwig bei Vice ihre „Fassungslosigkeit“ beschrieben:

Über die Art und Weise, mit welcher Nonchalance die Autorin sexuellen Missbrauch an Minderjährigen mit halbgaren Sadomaso-Fantasien vermengt—und wie kritiklos und unreflektiert die Filmemacher diesen moralischen und literarischen Schmutz auch noch übernehmen.

Das Schlimmste sei nicht die Unterwürfigkeit der weiblichen Protagonisten, sondern die Art und Weise, „wie der Film mit seinem männlichen Hauptcharakter umgeht.“

Die Pointe der Geschichte ist nicht die Dynamik von Dominanz und Unterwerfung – sondern die vollständige Befreiung vom Realitätsprinzip.

Als vor etwa 10 Jahren die Twilight-Buchreihe ein ähnlich gigantischer Erfolg war, hatte ich tatsächlich den ersten Band gelesen: Ich dachte, als Lehrer sollte ich wissen, wofür sich eigentlich so viele Schülerinnen so ausdauernd begeisterten. Fifty Shades of Grey begann später als Twilight-Fanfiction, und die Vorstellung war für mich abschreckend, dass sich dort der Kitsch von Twilight mit pornografischen Sado-Maso-Phantasien verband. So wäre ich niemals auf die Idee gekommen, eines der Bücher zu lesen oder einen der Filme anzusehen – wenn ich nicht Texte wie die oben zitierten gelesen hätte.

Für den ersten Film, den ich nun finster entschlossen gesehen habe, brauchte ich mehrere Anläufe. Nach nicht einmal fünfzehn Minuten hatte ich schon das Gefühl, mehr als zwei Stunden abgesessen zu haben. Kein einziger Satz, keine einzige Geste stimmt hier – alles wirkt aufgesetzt, kalkuliert, klischeehaft. Er spielt pubertäre Phantasien aus wie ein James Bond-Film, nimmt sich darin aber völlig ernst und hat nie die ironische Selbstdistanz, ohne die Bond-Filme ganz lächerlich wären.

Es gäbe überhaupt keine Grund, sich diesen Film anzuschauen – wenn er nicht tatsächlich ein eindrucksvolles und bedrückendes Beispiel für den Umgang mit dem sexuellen Missbrauch von Jungen wäre. Nachdem ich ihn in mehreren Etappen zu Ende gebracht hatte, dachte ich: Eigentlich wäre es längst höchste Zeit gewesen, dass auch Männer sich für diese Geschichte interessieren und mitreden.

Wenn sie denn angesichts der erregten, intensiven Begeisterung über den Film denn überhaupt zu Wort kommen.

 

„Ich wurde als Junge sexuell missbraucht.“ – „Ohje. Heißt das, ich bin nicht die Einzige für dich?“

In der Szene, in der Christian Grey der jungen Studentin Anastasia Steele von seiner Erfahrung des sexuellen Missbrauchs erzählt, gehen beide durch ein malerisches Waldstück und halten schließlich an einem malerischen See. Diese Szene ist gewiss eine der unehrlichsten und unstimmigsten Szenen im Kino der Gegenwart, aber sie hat eine innere Logik.

Christian berichtet, dass er im Alter von fünfzehn bis einundzwanzig Jahren von einer Freundin seiner Mutter sexuell erzogen worden sei – im Sinne einer Sexualität von Dominanz und Unterwerfung, bei der er den submissiven Part zugeteilt bekam. Auf die dominante Seite gewechselt, wiederholt er dieses Muster nun zwanghaft, unfähig zu einem dauerhaften menschlichen Kontakt außerhalb der sexuellen Exerzitien, für die er zugerichtet wurde.

In der Szene aber ist das kaum ein Problem. Die Mutter hat angeblich niemals etwas vom sexuellen Missbrauch durch ihre Freundin erfahren, Christian hält noch heute freundschaftlichen Kontakt zu dieser Frau. Lisa Ludwig kommentiert:

Alles in Ordnung. Er wollte es ja auch. Das hat ihn erst zu diesem sexy und zugleich tiefgründigen Biest gemacht, das er jetzt ist. Denn Missbrauch ist kein Verbrechen, sondern macht Menschen erst so richtig begehrenswert und interessant. Wohoo! Nächste Szene.“

Das stimmt, bis auf den allerletzten Satz. Tatsächlich ist die Szene hier nämlich noch nicht zu Ende, weil Anastasia Steele noch ein großes Problem bedrückt. Sie weiß nicht, ob sie in der Reihe von sexuellen Partnerinnen Christians nicht nur eine unter vielen ist. Er aber versichert ihr, dass er noch nie eine Frau – so wie sie – mit einem Hubschrauber zum ersten Date abgeholt und dass er noch nie mit einer Frau eine ganze Nacht verbracht habe. Die Szene in einer Kurzfassung:

„Ich bin als Junge von einer müttlerlichen Freundin über Jahre hinweg und bis ins Erwachsenenalter hinein sexuell missbraucht worden.“ – „Hmm. Jetzt aber mal was anderes: Sag mal, bin ich eigentlich die Einzige für Dich?“ – „Aber natürlich, Du bist etwas ganz Einzigartiges.“ (küsst sie)

Das ist kommunikativ so daneben, dass eigentlich irgendeinem der vielen Beteiligten hätte auffallen müssen, wie vieles hier nicht stimmt. Es hat aber eine innere Logik.

Die sexuelle Ausbeutung von Kindern und auch Jugendlichen durch Erwachsene ist ja eben gerade deshalb so destruktiv, weil sich hier nicht zwei annähernd gleichstarke Menschen begegnen, sondern weil die Perspektive des Kindes und Jugendlichen ganz in der des Erwachsenen verschwindet. Es ist eine Einverleibung.

Die Szene setzt diese Logik fort. Christian erzählt gerade von einer Erfahrung, die ihn für sein Leben geprägt hat und die er offenbar kaum einordnen kann. Gegen Ende des Films bezeichnet er sich selbst in der titelgebenden Zeile verzweifelt als „fifty shades of fucked up“ – und bringt das allenfalls damit in Zusammenhang, dass er als Sechsjähriger adoptiert wurde, nicht aber mit der Missbrauchserfahrung.

In der Szene am See aber verschwindet die lebensbestimmende Erfahrung wie selbstverständlich hinter Anastasia Steeles Bedürfnis, sich ihre Einzigartigkeit bestätigen zu lassen.

Das wiederum entspricht der Logik des ganzen Films. Wenn Christian sie zum ersten Date, tatsächlich, mit dem Hubschrauber abholt, dann wiederholt das pubertäre Fantasien aus James Bond-Filmen. Dort aber ist die überkandidelte Technik-Begeisterung motiviert durch ebenso überkandidelte Ziele – es geht selbstverständlich immer um die Rettung der Welt, und dafür lohnt sich natürlich jede Materialschlacht. Bei Fifty Shades of Grey aber ist deren Ziel allein, die Frau zu beeindrucken und ihr ein gutes Gefühl zu verschaffen – das ist hier immer schon Motivation genug, ganz gleich, worum es geht, und ganz ohne Sinn für die absurde Maßlosigkeit.

Auch der BDSM-Sex, der ja ohnehin lediglich als Konsequenz seelischer Traumata erscheint, ist hier eigentlich kaum von Interesse. Ebenso wenig geht es um eine Dynamik von Dominanz und Unterwerfung. Beides wird funktionalisiert für etwas ganz anderes: Mittelpunkt der Geschichte ist die vollständige Befreiung der Frau vom Realitätsprinzip.

 

Die Frau ohne Eigenschaften und der Mann als Spiegel

Warum eigentlich verfällt der Selfmade-Millionär Christian Grey, der von Frauen wieder und wieder als unwiderstehlich attraktiv beschreiben wird, ausgerechnet der unscheinbaren, unsichereren Anastasia Steele – einer Frau, die englische Literatur studiert, aber im Interview kaum eine Frage formulieren kann? Dass diese Frage überhaupt keine Rolle spielt, hat Fifty Shades mit dem Vorbild Twilight gemein: Auch dort ist es keine Überlegung wert, warum sich eigentlich gleich zwei männliche Übermenschen – der Vampir Edward und der Werwolf Jacob – unendlich in die unscheinbare Heldin Bella Swan verlieben.

Bella und Anastaia sind beide als Frauen ohne Eigenschaften konzipiert. Sie wirken nicht durch das, was sie sind – sondern dadurch, dass sie überhaupt sind. Es wäre viel zu nahe am Realitätsprinzip, die Frage zu stellen, warum das nicht ebenso auch für alle anderen Frauen gilt, die doch schließlich auch existieren. Bella und Anastasia sind reines Potenzial, noch nicht geprägt durch Auseinandersetzungen mit der Welt, in der sie leben, noch nicht begrenzt durch getroffene Entscheidungen.

Als ein solch gottgleiches Wesen ist Anastasia eben das Gegenteil von Christian, der zwar längst ungeheuer erfolgreich seinen Weg in der Welt gegangen ist, der aber in seinen Ängsten und seinem Zwangsverhalten unfähig ist, die ihm gegebenen Möglichkeiten zu nutzen.

Am Ende des Films setzt Anastasia sich diesen Zwängen ganz aus und befreit sich damit zugleich. Sie bittet Christian, sie zu bestrafen – er fragt nach, ob sie es auch wirklich möchte – spannt sie dann auf eine Vorrichtung und schlägt sie zehn Mal mit einem Leder auf den nackten Hintern. Verletzt und empört geht Anastasia – er möchte ihr noch hinterherkommen, bleibt aber fügsam stehen, als sie schlicht „Nein“ Sagt.

Im Kontext wird deutlich, wie absurd und irreal diese Szene ist. Gezeigt wird die Fantasie einer Frau – entworfen nach dem Vorbild eines Welterfolgs, der von einer Frau für Frauen und Mädchen geschrieben wurde – ausformuliert für Frauen – populär gemacht durch Frauen – zigmillionenfach auf der ganzen Welt von Frauen gekauft – von einer Frau verfilmt – mit vielen Millionen Zuschauerinnen auf der ganzen Welt. Doch all diese Frauen können sich ihre ureigenen sexuellen Fantasien als Fantasie eines Mannes fantasieren – als Fantasie von Christian Grey, der die unschuldige Anastasia Stele seinen Zwangsgedanken unterwirft.

So wie sich Anastasia am Ende verletzt und unterschwellig angewidert von Christian Grey distanziert, als ob sie selbst mit den sexuellen Dominanz- und Unterwerfungs-Ritualen gar nichts zu tun gehabt hätte – so haben auch Leserinnen und Zuschauerinnen die Möglichkeit, ihre eigenen Fantasien auf das Konto männlicher Machtbedürfnisse zu buchen. Dass Männer von alledem überhaupt nichts bemerken und daher auch nicht dazwischen reden können, bringt sie gar nicht erst in die Verlegenheit, ihre Funktion als Spiegel verschwitzter weiblicher Sex- und Gewalt-Fantasien womöglich zu stören.

Die Fantasie der Unterwerfung unter eine männliche Dominanz entlastet Frauen so von der Erwartung, ihre eigenen Bedürfnisse überhaupt auch nur als eigene zu identifizieren oder gar Verantwortung dafür zu übernehmen. Das gilt auch für den sexuellen Missbrauch Christians. Anastasia bezeichnet dessen mütterliche Freundin ausdrücklich als „Kindsmissbraucherin“ – muss sich aber selbstverständlich niemals Gedanken darüber machen, dass sie selbst die Konsequenzen dieses Missbrauchs erregt und genüsslich genießt.

 

Feminismus, Antifeminismus und die Befreiung von der lästigen Realität

Einen „latenten Antifeminismus“ entdeckt die Bloggerin Volksverpetzer in der Geschichte, und das ist erklärlich. Wer den Feminismus als Austreten der Frauen aus der Unmündigkeit und der Leitung durch Männer versteht, dem muss diese Geschichte einer weiblichen Unterordnung unter einen Mann zwangsläufig als antifeministisch erscheinen.

Nun ist der heutige Feminismus allerdings so widersprüchlich, dass jede denkbare feministische Position immer zugleich auch in irgendeinem Sinn antifeministisch ist – und umgekehrt. Das kann jeder leicht zu Hause ausprobieren, indem er einmal versucht, eine feministische Position zum muslimischen Kopftuch zu formulieren, die zugleich Alice Schwarzer und Anne Wizorek gefallen würde.

So hat dann eben auch Fifty Shades deutliche feministische Anteile. Die Fantasie, Frauen seien rundweg und unausweichlich patriarchalen Machtstrukturen unterworfen, entlastet von eigenen Verantwortungen, und sie entbindet vom Realitätsprinzip. Nicht nur ist die Rede vom Patriarchat empirisch unbegründet, mehr noch: Da die gesamte umgebende soziale Realität angeblich durch männliche Machtstrukturen geprägt ist, wird die Treue zum Realitätsprinzip gleichsam zur Kollaboration mit dem Feind. Die eigentliche, reine, unberührte, wirklich humane Realität ist immer irgendwo anders.

So zeigt dann Fifty Shades, was vom heutigen Feminismus übrig bleibt, wenn ihm der ideologische Überbau weggetrocknet ist. Auf der einen Seite steht eine Frau, die rein und heilend bleibt, was immer sie auch tut – auf der anderen Seite ein Mann, der machtfixiert und tief gestört ist und der ohne die heilende Kraft der Frau verloren wäre. Dass eben dieser Mann die gesamte ökonomische Basis des Geschehens im Alleingang bereit stellt, spielt ebenso wenig eine Rolle wie die Frage, wodurch diese umfassende Versorgungsleistung eigentlich möglich wird.

Dass diese Konstruktion insgesamt von der Geschichte eines jahrelangen sexuellen Missbrauchs eines pubertierenden Jungen durch eine erwachsene Frau motiviert ist, sichert die Machtverhältnisse immer schon ab: Ganz gleich, was der Mann auch tut – er tut es unter dem Zwang, zu wiederholen, was eine Frau ihm getan hat. Wohin er auch immer rennt – wie im Märchen vom Igel und Hasen ist die Frau gleichsam immer schon da. Das heißt: So vollständig und so erregt sich die Frau auch in die Unterwerfung hineinsehnt, hat sie doch immer die letzte Kontrolle über das Geschehen.

Dabei wird der sexuelle Missbrauch nicht einmal als bloße sexuelle Initiation verharmlost. Die katastrophalen Folgen für Christian, seine Bindungsunfähigkeit, seine Ängste und Zwänge sind jederzeit deutlich. Der sexuelle Missbrauch eines Jungen durch eine erwachsene Frau erscheint hier nicht etwa deshalb als akzeptabel, weil seine Konsequenzen harmlos wären – sondern deshalb, weil seine Konsequenzen in dieser Geschichte so unendlich geil sind.

Die Verantwortung für diese Geilheit wiederum kann jederzeit imaginativ auf Christian Grey selbst geschoben werden. Auch das setzt die Psychodynamik eines sexuellen Missbrauchs fort.

Dass eine solche perverse Konstruktion zu einem gigantischen Welterfolg werden konnte, ist nur durch ein Klima erklärlich, in dem Leserinnen und Zuschauerinnen sich umfassend der Verantwortung für das, was sie tun, enthoben fühlen können. Eine solche Realitäts- und Verantwortungsentlastung ist nicht rundweg „antifeministisch“, ganz im Gegenteil: Der heutige Institutionen-Feminismus, der Frauen durchweg als Diskriminierte in den Strukturen einer männlichen Herrschaft hinstellt, trägt zu diesem Klima der Realitäts- und Verantwortungsentlastung erheblich bei.


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