Quantcast
Channel: man tau
Viewing all articles
Browse latest Browse all 356

Blinde Flecken, beste Absichten

$
0
0
The Walking Dead
Wie die Gender-Pädagogik die autoritäre Pädagogik wieder zum Laufen bringt
Teil 2
Über „das kolossale pädagogische und didaktische Potenzial des Themas“ – nämlich Gender – spricht ein Göttinger Lehrer im Interview mit Lotta König, einer der Herausgeberinnen des Heftes Negotiating Gender der Zeitschrift Der fremdsprachliche Unterricht Englisch. Er hat über ein Jahr lang „im abiturvorbereitenden Englischunterricht gender-reflektierende Unterrichtseinheiten“ eingesetzt, stellt aber allgemein fest, dass „’Gender’ als Thema weniger präsent“ sei als noch in den Neunziger Jahren. Im Kerncurriculum und in den Bildungsstandards tauche es gar „als Begriff gar nicht mehr auf“. (alle S. 44)  Es sei gar
„ein Merkmal der Zentralabi-Texte (…), dass sie allesamt von Männern verfasst sind. (…) Das ist ja schlimmer als in den 1970ern – ein Missstand, dem abgeholfen werden muss.“ (S. 45)
Warum Gender an den Schulen kein „Standardthema“ mehr ist, fragt er ebenso wenig wie seine Interviewerin – er deutet lediglich an, dass es an einer ignoranten Schulpolitik liegen könnte. Jedenfalls hat der Gedanke hier keinen Platz, dass das Thema möglicherweise in seiner heute an den Universitäten diskutierten Form eben KEIN kolossales Potenzial für die Schulen haben könnte.
Ein Junge beim Einüben von Inszenierungen einer hegemonialen Männlichkeit.
Dabei bemerkt der Lehrer selbst, dass er mit dem Unterricht Mädchen in weitaus größerem Maße erreicht als Jungen. Die hätten sich deutlich weniger geäußert, und im Vergleich zu den souveränen Mädchen-Äußerungen seien die von Jungen „alle kürzer, bruchstückhafter und weniger differenziert“ gewesen. (44)
 
Dass das damit zu tun haben könnte, dass die Gender-Pädagogik Mädchen und Frauen deutlich positiver zeichnet als Jungen und Männer – das ist ein naheliegender Gedanke, der hier aber keine Rolle spielt. Stattdessen erklärt der Lehrer sich das Verhalten der Schüler mit ihrer persönlichen Unsicherheit und Sprachlosigkeit, mit der die Schule offenbar überhaupt nichts zu tun hat.
„Ich glaube, dass Jungen in ihrer sexuellen Identität viel unsicherer sind. Es ist für sie ein schwierigeres Thema als für die Mädchen, weil sie dafür weniger Worte haben.“
Dabei sei die schulische Auseinandersetzung mit dem Thema für Jungen möglicherweise noch wichtiger als für Mädchen.

„Weil der Kontrast zwischen emotionaler Wucht dieses Themas und Bedeutsamkeit für ihr Leben und der Fähigkeit, damit verbal oder handelnd umzugehen, größer ist als für Mädchen.“ (44)

Diese Überlegungen wiederholen nicht einfach nur Klischees, etwa das vom männlichen Verhaftetsein an überkommene Rollenbilder – und  der Lehrer fragt sich ernsthaft, was sein Unterricht auch für die Jungen in seiner Klasse bedeuten könnte. Umso auffälliger ist: Selbst wenn ein guter Teil seiner Klasse im Unterricht spürbar verstummt, besteht auch für ihn ganz selbstverständlich kein Anlass zu fragen, ob das nicht auch etwas mit diesem Unterricht selbst zu tun haben könnte.

Das wiederum liegt wohl auch an den blinden Flecken einer Pädagogik, die sich auf „die neueren Konzepte und Erkenntnisse der Genderforschung“ (44) bezieht. Welche Erkenntnisse das sind, verrät der interviewte Lehrer hier nicht – welche blinden Flecken eine Gender-Pädagogik aber insgesamt hat, lässt sich durchaus genau beschreiben:

Erster blinder Fleck: Geschlechterklischees „Ich passe genau auf, ob ich nicht unterschwellig signalisiere, was ich gut oder falsch finde“, erklärt der Lehrer. Gleich im nächsten Satz fügt er hinzu, die Versuchung sei groß, „ein bisschen male bonding zu betreiben“ und sich „mit Schülern auf einer Ebene der alten Klischees und Vorurteile zu treffen.“ (44) Dass nichts als „falsch“ etikettiert werden solle, gilt also offenbar nicht für das male bonding und auch nicht für Klischees und Vorurteile, die scheinbar oder tatsächlich daraus erwachsen.
 
Warum dem Lehrer dieser Widerspruch entgeht, lässt sich mit den Klischees erklären, denen er selbst verhaftet ist – es sind Klischees, die das ganze Heft prägen.
„Sexismus ebenso wie einschränkende Anforderungen an Männlichkeit“ sollten „benennbar und damit auch kritisierbar“ gemacht werden (S. 6).
Das erklären die Herausgeberinnen gleich zu Beginn und machen damit unwillkürlich klar, dass Sexismus selbstverständlich Männer nicht treffen könne. Einschränkungen für Männlichkeit wurzeln hier auch durchgehend allein in konservativen Geschlechterbildern, in Strukturen der „Zweigeschlechtlichkeit“ und „Heteronormativität“.
 
Bei aller Rhetorik, dass sie „Grenzen im Denken auflösen“ (S. 44), „Aushandlungs und Reflexionsprozesse (…) anstoßen“ (S. 2), „Identitätsentwürfe (…) spielerisch erproben“ (S. 14) oder „erkunden“ (S. 32), sich „mit Geschlechteridentitäten im Lehrwerk auseinandersetzen“ (20), „Genderkonstruktionen (…) aufspüren“ (S. 26) oder „Heteronormativität reflektieren“ (S. 38) wollten – die Bilder von Männern, die sie entwerfen, sind bleibend starr und holzschnittartig.
 
Männer sind hier entweder traditionell, heteronormativ verhaftet, simpel, eingeschränkt, eingeengt und einengend – oder sie sind irgendwie neu, abweichend, widerständig, im Widerspruch zu Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit.
 
Die allzu große Einfachheit dieses Musters wird den Verantwortlichen an keiner Stelle klar. Hermann-Cohen übersieht Wesentliches beim Film Billy Elliot, weil er den Vater und den Bruder als traditionelle Männer einordnet und sie so bestenfalls als Simpel, schlimmeren Falls als Tyrannen wahrnehmen kann – König übersieht Wesentliches an Shakespeare-Sonetten, weil sie Shakespeare ahistorisch als Kronzeugen gegen eine angeblich erst heutige Heteronormativität ins Felde führt. (Dazu mehr im vorangegangenen Text.)
 
Das eben prägt auch den Blick auf Jungen. Entscheiden sich Jungen, traditionellen Geschlechterrollen verhaftet zu sein, dann ist ihnen nicht zu helfen – entscheiden sie sich, diese Rollen zu verlassen und sich wie den heteronormativen Einengungen zu entziehen, dann haben sie schon selbst dafür gesorgt, dass sie in der Schule erfolgreich sein können.
 
Das entspricht so dem Bild, das Rieskes im vorangegangenen Text zitierte GEW-Studie von Jungen entwickelt.
„Besonders der Ruf nach mehr männlichen Vorbildern in der Schule lässt die Frage aufkommen, ob nicht gerade die gesellschaftlich anerkannte Norm von Männlichkeit für den schulischen Misserfolg bestimmter Jungen mitverantwortlich ist.”
So das GEW-Vorstandsmitglied Anne Jenter in Vorwort der Studie, S. 5.
 
Das entspricht auch dem gehässigen Bild von Jungen, das der Schulforscher Marcel Helbig entwirft, der – auf methodisch angreifbare Weise – zu beweisen versucht, dass der massive Männermangel an Schulen den Jungen nicht schade. Im Interview stellt er Jungen als arbeitsscheu hin:
„Weil sie es sich leisten können. Als Mann kommt man in der Gesellschaft auch nach oben, wenn man nicht viel tut.“
Auch eine neuere Studie des Luxemburger Professors Andreas Hadjar und anderer findet zwar erwartbar heraus, dass bei Jungen ein enger Zusammenhang zwischen dem Bildungsmisserfolg und der Entfremdung von der Schule besteht – sie wischt aber schnell (und mit dem Hinweis auf Helbig) die Frage beiseite, ob diese Entfremdung vielleicht Gründe haben könnte, für die nicht die Jungen selbst verantwortlich sind.
 
Viele Kinder erleben bis zu ihrem elften Lebensjahr – dem Beginn der weiterführenden Schule in der fünften Klasse – in Kindergarten, Schule und oft auch in Familien keinen stabilen, verlässlichen Kontakt zu männlichen Erwachsenen. Für die Verantwortlichen der Studie aber ist es kein intensiveres Nachdenken wert, dass diese Konstellation möglicherweise ein Entfremdungsgefühl befördern könnte. Stattdessen versuchen sie, Korrelationen zwischen Entfremdungsgefühlen und „patriarchalen Orientierungen“ der Jungen nachzuweisen.
 
Ich habe noch niemals in irgendeinem Text „kritisch-emanzipatorischer“ Pädagogik jemals den doch eigentlich naheliegenden Gedanken gelesen, dass eben diese Holzschnittartigkeit und mit ihr die programmatische Verweigerung von Empathie und Unterstützung für Jungen und Männer ganz auf traditionelle Geschlechterklischees aufbaut.
 
Zweiter blinder Fleck: Geschlechterfixiertheit Ebenso, wie Empathie hier einseitig entlang der – ansonsten natürlich beständig „hinterfragten“, „kritisierten“ oder „aufgelösten“ – Geschlechtergrenzen verteilt wird, so ist auch die Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeiten selektiv. Was sich in „Heteronormativität“ umrechnen lässt, ist unbedingt wahrzunehmen, zu kritisieren, zu hinterfragen und aufzubrechen – was sich so nicht umrechnen lässt, bleibt völlig unbemerkt.
 
Die Ignoranz gegenüber den  ungeheuer traumatisierenden sozialen Umbrüchen der Thatcher-Ära im Billy Elliot ist nur ein besonders augenfälliges Beispiel. Tatsächlich ist die ganze Fixierung auf Inszenierungen, auf Performances, auf den Zeichencharakter von Wirklichkeit Ausdruck sozialer Spaltungen, die den Autoren offenkundig gar nicht bewusst – oder gleichgültig sind.
 
Die Fixierung auf eine Theatermetaphorik ergibt nämlich nur in einem Milieu einen Sinn, das seinerseits Wirklichkeit vorwiegend als sprachliche Inszenierung begreift – und das ist ein akademisch geprägtes Milieu. Es geht nicht etwa darum zu fragen, welche Wirklichkeit durch Sprache dargestellt wird, ob sie angemessen dargestellt wird oder wie die Darstellung wiederum auf diese Wirklichkeit einwirkt. Stattdessen geht es vor allem um die Frage, inwieweit diese Inszenierungen als Re-Inszenierungen vorhergehender Inszenierungen zu verstehen sind: Die Bühne wird nicht genutzt, um die Welt zu erklären, sondern die ganze Welt wird zur Bühne erklärt.
 
Wie sehr diese Fixierung auf sprachliche Inszenierungen soziale Spaltungen nicht etwa analysiert, sondern wiederholt, zeigt sich beispielweise an den Wirrnissen der sogenannten geschlechtergerechten Sprache, für die das feministische Sprachhandeln  nach Lann Hornscheidt ein Beispiel ist.
 
Während Menschen aus nicht-akademischen Milieus sich gemeinhin überhaupt erst einmal in die Gepflogenheiten akademischen Sprachgebrauchs einfinden müssen, treibt Sprache wie die von Hornscheidt diese Gepflogenheiten in ein Extrem.
 
Es ist eine hermetische Sprache, die gleichsam eine akademische Wagenburg gegen Neuankömmlinge aus nicht-akademischen Milieus errichtet. Es ist eine Herrschaftssprache, die sich als emanzipatorisch verkauft. So können dann mit einem durchaus perfiden Zug ausgerechnet diejenigen, die sich dagegen abgrenzen, leicht als „reaktionär“ und „privilegienverhaftet“ abgetan werden.
 
Der zweite blinde Fleck hängt eng mit dem ersten blinden Fleck zusammen. Werden dort Männer und Jungen kaum empathisch wahrgenommen, weil sie als Herrscher imaginiert werden, entsteht der zweite blinde Fleck durch die Unfähigkeit, soziale Phänomene anders zu interpretieren denn als Ausdruck von „Herrschaft“. Diese Herrschaft ist immer männlich konnotiert, bleibt aber abstrakt, abgelöst von spezifischen sozialen Situationen.
 
Spezifische Situationen dienen dann immer nur als Beispiel für bereits bestehende Überzeugungen, können aber zur Änderung dieser Überzeugungen ihrerseits nichts beitragen. Sie werden also entweder als Bestätigung interpretiert – oder sie werden ganz übersehen. Das gilt selbst dann, wenn sie so unübersehbar sind wie die sozialen Verwerfungen im Film Billy Elliot.
 
Dritter blinder Fleck: Fehlende Reflexivität Es könne, so schreiben die Herausgeberinnen im Einleitungstext, im Unterricht immer nur darum gehen, „Reflexions- und Aushandlungsprozesse anzuregen, und nicht darum, eine erwünschte ‚Weltsicht’ hervorzubringen.“ Es würden dabei natürlich „immer auch Klischees aufkommen und Konflikte entstehen – dies gehört zu Aushandlungen dazu.“ (S. 6) Der oben zitierte Lehrer stellt im Interview klar, es ginge lediglich darum, „Beschränktheiten im Denken aufzulösen“, aber nicht darum, „Schüler in eine bestimmte Denkweise lenken zu wollen.“ (S. 44)
 
Solche Abgrenzungen gegenüber dem kaum jemals explizit aufgegriffenen Vorwurf, Indoktrination zu betreiben, finden sich in vielen und ganz unterschiedlichen Texten des Heftes. Grundsätzlich ist die Perspektive auf Öffnungen des Unterrichts natürlich auch völlig richtig – es kann ja beispielsweise tatsächlich neue Perspektiven schaffen,  Texte von Jugendlichen zu lesen, die sich als „queer“ beschreiben (S. 32ff.) Es ist auch richtig zu fordern, dass es „gut geschriebene, spannende“ (S. 45) Geschichten sein müssten, und klarzustellen, dass die gute Absicht allein nicht reiche.
 
Nur geht es in der gesamten Anlage des Heftes, so wie auch weiträumig in der Gender-Pädagogik, noch um viel mehr als um Offenheit für ungewöhnlichere Geschichten und Lebensgeschichten. Für die eigenen Begrenzungen aber, die durchgehenden Abwertungen von traditioneller Männlichkeit beispielsweise haben die Verantwortlichen offenbar überhaupt keinen Sinn, oder sie sind für sie unproblematisch. Das gilt ebenso für die pauschale Aufladung und Aufwertung von Menschen, die sich „einer klaren Zuordnung zu gesellschaftlich normierten Kategorien wie weiblich oder heterosexuell“ entziehen. (S. 34)
 
Dass es ihnen an Selbstwahrnehmung fehlt, hängt offenbar eng mit dem eigenen Selbstverständnis zusammen. Ob Ansätze kritisch oder emanzipatorisch sind, wird gemeinhin ja erst im Laufe von Diskussionen deutlich, oder angesichts ihrer realen Konsequenzen. In den Gender-Studies und der dazugehörigen Pädagogik gehört es jedoch regelrecht zum guten Ton, sich beständig selbst als „kritisch“ und „emanzipatorisch“ zu plakatieren.
 
Das bedeutet, praktischerweise, dass damit die eigenen Kritiker immer auch unkritisch und anti-emanzipatorisch sind. Nach diesem Selbstverständnis aber bedeutet  zu „reflektieren“ dann nicht etwa, die Grundlagen der eigenen Position zu überprüfen – sondern es bedeutet lediglich, das in Frage zu stellen, was als Teil einer „heteronormativen Ordnung“ identifiziert wird.
 
Selbstkritik bedeutet also beispielsweise nicht zu fragen, ob die Rede von „Heteronormativität“ möglicherweise allzu simpel und holzschnittartig ist – sondern es bedeutet, sich selbst zu überprüfen, inwieweit Teile dieser zu überwindenden heteronormativen Ordnung noch immer das eigene Denken prägen.
 
Eben deshalb fehlt es dieser Pädagogik an Selbst-Reflektion: Sie weiß eigentlich immer schon, was richtig ist. Sie muss keine Fragen stellen, weil sie eigentlich alle Antworten immer schon kennt.
 
Vierter blinder Fleck: Autoritarismus Wer aber so klare Grenzen und so große blinde Flecken hat, ohne über sie offen reflektieren zu können – der wird auch im Unterricht die Schüler gängeln müssen, um nicht beständig mit diesen Grenzen konfrontiert zu werden. Dass Schüler nicht „in eine bestimmte Denkweise gelenkt“ werden sollen, ist dann bloß fromme Absicht – und sie entspringt offenkundig dem Willen, sich selbst als offen und progressiv, nicht als einengend und direktiv wahrnehmen zu wollen.
 
Angesichts der erheblichen eigenen Begrenzungen ist es aber unwahrscheinlich, dass diese Absicht überhaupt umgesetzt werden kann. Es ist auch nicht einmal notwendig: Wer Klassen leitet, der wird in jedem Fall auch Grenzen setzten müssen. Fraglich ist nicht, ob er es tut oder nicht – sondern welchen Zweck er damit verfolgt – welche Grenzen er setzt und welche nicht – wie klar und ehrlich er Grenzen setzt („Transparenz“ ist ein Zauberwort neuerer Schulpädagogik) – oder wie sehr den Schülern selbst die Bedeutung dieser Grenzen auch deutlich werden kann.
 
In den letzten Jahren sind mehrmals pädagogische Bücher zu Bestsellern geworden, die mehr Autorität und Disziplin in Schule und Familien forderten – beispielsweise Bernard Buebs Lob der Disziplin oder Michael Winterhoffs  Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden. Die Autoren bezogen ihre Position jeweils klar genug, dass es leicht möglich war zu unterscheiden, welche Aspekte ihrer Texte einseitig oder überzeichnend – und welche Aspekte diskussionswürdig waren.
 
Natürlich wurden sie auch offen angegriffen, nämlich als Wiedergänger einer längst überlebten autoritären Pädagogik. In zumindest einer wichtigen Hinsicht sind sie das nicht: Weder Bueb noch Winterhoff erheben den in der klassischen autoritären Pädagogik selbstverständlichen Anspruch, Repräsentanten eines besseren, edleren Menschseins zu sein und die Erziehung als Mittel zu begreifen, dieses bessere Menschsein insgesamt zu formen.
 
Eben in dieser Hinsicht aber ist die Gender-Pädagogik in hohem Maße angreifbar – auch wenn gerade bei ihr die Angriffe progressiver Pädagogen völlig ausbleiben. Holzschnittartige Zuteilungen in besseres (kritisches, widerständiges, grenzlösendes, sich den heteronormativen Zuordnungen entziehendes) und schlechteres (unkritisches, Herrschaft reproduzierendes, beengtes, heteronormativ männliches) Menschsein sind hier völlig selbstverständlich.
 
Das hat eine Haltung zur Konsequenz, die regelrecht prototypisch für die klassische autoritäre Pädagogik ist: Die Kinder und Jugendlichen, um die es eigentlich in der Erziehung gehen sollte, geraten ganz aus dem Blick. Es ist ja immer nur zu ihrem Besten, wenn ihre Perspektiven denen der Erwachsenen untergeordnet werden.
 
An keiner einzigen Stelle fragen sich die Autoren des Heftes, ob relativ starre heteronormative Zuordnungen nicht, bestimmten Altersstufen entsprechend, auch vernünftige Funktionen erfüllen könnten – oder ob eine größere Flexibilität nicht gerade dann möglich wird, wenn Kinder und Jugendliche überhaupt erst einmal Sicherheit in gegebenen Ordnungen gefunden haben. Die groben Gut-Schlecht-Zuordnungen der Texte verhindern es, solch ein Zusammenspiel aus Normbestätigung und Normerweiterung überhaupt für möglich zu halten.
 
Die – traditionellen, heteronormativen – Jungen bleiben in ihren Notlagen ausdrücklich ausgeblendet, transsexuelle oder transidente Kinder und Jugendliche werden ausführlich vorgestellt (S. 32ff.), ihre fehlende Repräsentation in Lehrwerken wortreich beklagt (S. 20ff.). Tatsächlich aber geht es den Pädagogen weder um die einen noch um die anderen – auch transidente Jugendliche sind nur so lange von Bedeutung, so lange sie gedankliche Muster Erwachsener bestätigen.
 
So entwirft die Gender-Pädagogik, ganz gegen ihre eigene Plakatierung als „kritisch-emanzipatorisch“, das Bild einer Wiederkehr der längst überlebten autoritären Pädagogik: sozial selektiv und abschottend – moralisierend – mit klaren, aber uneingestandenen Gut-Schlecht-Zuschreibungen operierend, sogar mit Phantasien eines besseren Menschseins – fixiert auf die immer schon als gültig erlebten Vorstellungen Erwachsener – ohne Sinn für die eigenständigen Perspektiven der Kinder und Jugendlichen – kaum fähig, die eigenen Grundlagen ernsthaft in Frage zu stellen.
 
Es wäre eine interessante Frage, warum es gerade heute offenkundig ein großes Bedürfnis danach gibt, solche Leichen aus dem Keller der modernen Pädagogik wieder auszugraben und erneut zum Laufen zu bringen. Die Gender-Pädagogik erfüllt dabei jedenfalls die Funktion, autoritäre Strukturen mit progressiven Selbsteinschätzungen vereinbar zu machen: Es ist eine autoritäre Pädagogik für Menschen, denen es wichtig ist, sich selbst als emanzipatorisch zu begreifen.
 
Dass aber Wiedergänger einer klassisch autoritären Pädagogik gegenüber Jungen spezifische Feindseligkeiten entwickeln, ist kein Zufall. Jungen werden traditionell, und schon lange vor feministischen Zuschreibungen, auf eine Weise wahrgenommen, die autoritären Erziehern verdächtig ist: als eigenwillig – querköpfig – sozial unverträglich – faul und bequem – selbstherrlich – aufmüpfig – konfliktfixiert.
 
Solche Eigenschaften können heute als Teil einer traditionellen Männlichkeit verstanden und dann, mit gutem antiautoritärem Gewissen, abqualifiziert werden. Rebellische Einstellungen gegenüber der Arbeit in der Schule, gegenüber Regeln und Autoritäten werden beispielweise in der schon zitierten Studie von Hadjar et.al. ausdrücklich als „hegemoniale Praktiken von Männlichkeit” (hegemonic practices of masculinity) verstanden. (S. 94-95)
 
Es liegt dann nahe, die so etikettierten Kinder und Jugendlichen ebenfalls abzuqualifizieren. Es ist ja zu ihrem Besten.
 
Quellen, soweit nicht verlinkt:

Lotta König, Carola Surkamp, Helene Decke-Cornill (Hrsg.): Der fremdsprachliche Unterricht Englisch. 135/2015. Negotiating Gender, Friedrich Verlag Seelze, 2015

Andreas Hadjar, Susanne Backes, Stefanie Gysin: School Alienation, Patriarchal Gender-Role Orientations and the Lower Educational Success of Boys. A Mixed-method Study. in:  Masculinities and Social Change, 4 (1), 85-116, 2015. Link

The Walking Dead. Wie die Gender-Pädagogik die autoritäre Pädagogik wieder zum Laufen bringt
Teil 2: Blinde Flecken, beste Absichten

Einsortiert unter:Männer Frauen, Schule

Viewing all articles
Browse latest Browse all 356