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Wozu braucht man in der Schule eigentlich einen Körper?

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Zur seltsamen Debatte um die Abschaffung der Bundesjugendspiele
So begann es vor einer Woche bei Twitter. Christine Finke, eine Journalistin und Mutter und zugleich eine Bloggerin unter dem Namen Mama arbeitet, stellte bei change.org tatsächlich diese Petition ein – und hat damit heute schon 15.000 Unterschriften für die Abschaffung der Bundesjugendspiele gesammelt.
„Für viele weniger sportliche Schüler (…) bedeuten diese Spiele eine alljährlich wiederkehrende öffentliche Demütigung.“

So begründet sie ihre Forderung, mit der sie auch in den Medien ungeheuren Erfolg hat. Die Tagesschau berichtet darüber, die Zeitung Die Welt, der Bayrische Rundfunk und natürlich die Bild-Zeitung. Der Spiegel schreibt gleich mehrere Male über die Petition, in einem bissigen Kommentar über die „Helikoptermutter”, vorher in persönlich gehaltenen Erinnerungen („Sogar  Mädchen waren besser als ich“) und im Rahmen eines Interviews mit Finke. In diesem Gespräch kann sie Gegner ihrer Petition dann auch gleich mit Nazis assoziieren, weil das heute eben dazugehört, wenn Menschen es für unmöglich erklären möchten, dass jemand mit guten Gründen eine andere Meinung haben könnte als sie.

Ein wenig Sport ab und zu wäre möglicherweise ja noch ganz in Ordnung, wenn nur der Wettkampfcharakter nicht wäre. #bundesjugendspieleweg

An mir wäre all das möglicherweise weitgehend unbemerkt vorbeigetrieben, wenn mich nicht Robin Urban mit ihrem Text „Schulsport – Ein Hurra auf ein unbeliebtes Fach“ darauf aufmerksam gemacht hätte. Sie kritisiert darin die Petition und tritt für den Schulsport und  für die Bundesjugendspiele ein. Auch wer sich angesichts der Diskussion etwas verwundert fragt, ob wir eigentlich tatsächlich keine anderen Probleme haben, kann in dem Text Argumente finden, die viel über das Lernen in der Schule aussagen – über die seltsame Debatte um die Abschaffung der Bundesjugendspiele hinaus.

Mir gefiel daher Robins Text sehr gut, und das wollte ich auch bei ihr kommentieren – aber dann fielen mir dabei so viele Begebenheiten aus meinem eigenen Schulalltag ein, dass der Kommentar ein wenig zu lang wurde. So ist es passender, diesen Kommentar etwas zu verändern und ihn hier als eigenen Text zu veröffentlichen:

Ein Lauf um den Platz im Weserstadion

Robin schreibt:
„Die Kleinkinder von heute schneiden im Bereich Koordinationsvermögen deutlich schlechter ab als die Eltern- und Großelterngeneration im selben Alter.“
Das kann ich mit ein paar Beispielen illustrieren. Ich kenne z.B. Kinder, die es auf Klassenfahrten aufgrund ihres großen Übergewichts nicht schaffen, ein paar Minuten durch eine Stadt zu gehen, ohne außer Atem zu geraten. Das sind Extremfälle, aber keine absoluten Einzelfälle.
 
Bei den Bundesjugendspielen dieses Jahres konnten viele Schüler meiner siebten Klasse nicht einmal eine Runde (von den verlangten zwei Runden) laufen, ohne zwischendurch anzuhalten, durchzupusten, einen guten Teil der Strecke zu gehen. Bei einer Besichtigung des Weserstadions mit unserem fünfjährigen Sohn hingegen ist er neulich begeistert einmal um den ganzen Platz gerannt – das hätten viele in meiner Klasse, dreizehn Jahre alt, nicht geschafft.
 
Dieses Ergebnis des Wettbewerbs ist seltsam und auch besorgniserregend. Anstatt jedoch zu überlegen, wie solche Ergebnisse in Zukunft verbessert werden können, nun doch lieber gleich den ganzen Wettbewerb abzuschaffen – das ist ziemlich offensichtlich sinnlos.

Eine große graue Einförmigkeit Tausender Stunden
  Sport ist aber nicht nur wichtig, weil die weit verbreitete kindliche Bewegungsarmut irgendwo einmal ausgeglichen werden muss. Er erfüllt in der Schule vor allem deshalb eine wichtige Funktion, weil damit dort endlich einmal auch körperliche Bewegung von Bedeutung ist. Da bin ich übrigens völlig anderer Meinung als Leszek, der in seinem Kommentar bei Robin den Sportunterricht als Eingriff in die körperliche Selbstbestimmung beschreibt.
 
Die Kinder, Jugendlichen, dann jungen Erwachsenen erleben von der ersten bis zur dreizehnten (oder neunten, oder zehnten) Klasse, wenn sie die Schule wieder verlassen, ungeheure Umbrüche. Zudem haben sie jeden Tag Unterricht in völlig unterschiedlichen Fächern. Bei alledem aber bleibt über die ganzen Jahre hinweg ihre Tätigkeit monoton identisch: Sie sitzen am Tisch. Das ist, verglichen mit den enormen Entwicklungen, die sie erleben – lächerlich gleichförmig.
 
Warum das problematisch ist, kann man vielleicht auch mit einem Seitenblick auf die Hirnphysiologie deutlich machen, auf die Robins Text am Beispiel von Gerald Hüther eingeht. Was im Hirn gespeichert wird, sind grundsätzlich Handlungen, wiederkehrende Bewegungen. Abstraktes Wissen, auch sprachlich zubereitetes Wissen kommt erst viel später und baut darauf auf. Ganz einfach formuliert: Grundsätzlich braucht das Hirn körperliche Bewegung.
 
Im Rückblick kommt mir der Unterricht in den vielen verschiedenen Fächern, die ich selbst als Schüler erlebt habe, wie ein großes graues Nichts vor – eine Einförmigkeit Tausender Stunden, die nur ab und zu durch Highlights unterbrochen wurde. Ich bin mir heute sicher, dass dieser Eindruck der Einförmigkeit auch dadurch entstand, dass ich eben einförmig immer dasselbe getan habe: Ich habe dagesessen und gelernt – bzw. aufgepasst, dass ich nicht beim Träumen erwischt werde. Die Inhalte wechselten im 45-Minuten-Takt, heute an vielen Schulen im 90-Minuten-Takt, aber die Tätigkeit blieb immer dieselbe.
 
Die berühmte Langeweile in der Schule wurzelt also wohl auch darin, dass Schüler einen guten Teil ihrer körperlichen Energie ausgerechnet darauf verwenden müssen, ihre Bewegungsimpulse zu unterdrücken und einigermaßen ruhig sitzen zu bleiben. Daher hat Leszek in meinen Augen in diesem Punkt auch Unrecht: Nicht spezifisch der Sportunterricht greift in die körperliche Selbstbestimmung ein – wenn schon, dann tut dies der gesamte Unterricht.

Das aber wird nicht problematisiert – problematisch wird Schule für viele offenbar erst, wenn ausnahmsweise einmal etwas anderes getan wird, als am Tisch zu sitzen. Deshalb finde ich die Frage auch richtig:

Ein Grund ist sicher der, dass sich Kinder und Jugendliche im Sportunterricht stärker exponieren als im Klassenraum. Dort bietet schon der Tisch, hinter dem sie sitzen, eine gewissen Schutz – im Sport müssen sie möglicherweise vor den Augen aller etwas vorführen und machen sich, zumindest im eigenen Empfinden, in besonderer Weise lächerlich, wenn sie sich dabei ungeschickt anstellen.
 
Robin stellt in ihrem Text Kriterien für guten Schulsport auf,  bei denen es insbesondere darum geht, Demütigungen zu vermeiden. Das Wählen der Mannschaften zum Beispiel, bei dem zwangsläufig am Ende die zurückbleiben, die keiner haben will – das ist tatsächlich eine Demütigung mit Ansage.
 
Das sind wohl Situationen, die den Sportunterricht für viele regelrecht zu einem Angstfach gemacht haben. Die Turnstunde von Rilke ist für mich ein Beispiel dafür – und dass in der Zeit dieser Geschichte das Turnen und überhaupt der Sport Vorbereitung auf den Militärdienst waren, zumindest bei Jungen, hat wohl erheblich zum schlechten Leumund des Faches beigetragen und lange weiter gewirkt. Ich habe Sportlehrer erlebt, die sich heute immer noch so verhalten, als wären sie beim Bund.
 
Das passt schlecht zusammen: eine große Verletzbarkeit der Schüler durch die ungewöhnliche große Exponiertheit im Unterricht – und eine Tradition des Fachs, die durchaus ab und zu Anleihen beim Militär macht. Aber es gibt eben auch in anderen Fächern Lehrer, die sich verletzend oder demütigend verhalten – ohne dass jemand auf die Idee käme, deshalb gleich das ganze Fach in Frage zu stellen. In der Mathematik beispielweise, noch einem Angstfach vieler Schüler.
 
Ich setze in meinen Fächern sehr oft Methoden aus der Theaterarbeit ein – weil auch damit der Körper aktiviert wird und dann gleichsam nicht nur dafür da ist, den Kopf zur Schule zu transportieren. Das lohnt sich nach meiner Erfahrung sehr. Aber die Schüler machen sich damit auch in besonderer Weise verletzbar, weil sie sich exponieren – und deshalb muss ich in besonderer Weise darauf achten, dass sie vernünftig mit dieser Situation und miteinander umgehen. Was natürlich auch für mich selbst gilt.
 
Eben das gilt in gleicher Weise denn auch für den Sportunterricht, und wenn es beherzigt wird, sehe ich überhaupt keine Berechtigung dafür, das Fach abzuwerten oder als besonders traumatisierend hinzustellen.

Alles im Sinne der Kinder. Der eigenen Kinder.
 Daher ist die Petition auch gleich aus mehreren Gründen falsch. Robin hat den Eindruck, dass hier „viele alte Verletzungen zutage treten“. Gleich einige Beteiligte, unter anderem Finke selbst, schreiben tatsächlich offen, dass sie mit der Petition auch für das Kind eintreten, das sie einmal waren.
 
Schon das ist jedoch problematisch: Wenn die Wahrnehmung der heutigen Kinder überlagert wird durch die eigenen Kindheitserfahrungen der Eltern – ohne die Möglichkeit einzuräumen, dass sich ja mittlerweile auch etwas geändert haben könnte.
 
Was mich noch mehr stört: Hier treten Eltern ausdrücklich nur für ihre Kinder ein. Finke weiß, dass die Bundesjugendspiele gerade Kindern Erfolgserlebnisse verschaffen können, die sonst beständig Misserfolge erleben, und sie erwähnt es ausdrücklich. Sie sieht es aber nicht ein, dass andere, ihre eigenen Kinder dafür enttäuschende Erfahrungen machen. Dass es fair sein könnte, in der Schule verschiedene Intelligenzen oder Begabungen anzusprechen, auf die Robin mit Bezug auf Howard Gardner hinweist  – auf die Idee kommt sie offenbar gar nicht.
 
Für die Kinder, die stärker motorische als kognitive Fähigkeiten haben, müssen dann eben deren Eltern eintreten, möglicherweise mit einer eigenen Petition für die Bundesjugendspiele. Wenn sie das nicht tun, sind sie selber schuld.
 
So aber funktioniert Elternarbeit in der Schule nicht. Es ist wichtig, unter den Eltern einer Klasse ausreichend viele zu haben, die nicht allein für die Interessen ihrer Kinder eintreten, sondern die das Interesse der ganzen Klasse im Auge haben. Wenn es davon ausreichend viele gibt, kann die Klasse auch ein paar Eltern-Egoisten vertragen. Aber nur dann.
 
Ein ganz frisches Beispiel dafür, wie wichtig die Bundesjugendspiele sein können, auch wenn sie für einzelne enttäuschend sind: Ein Mädchen meiner siebten Klasse hatte in diesem Jahr dabei sehr gute Resultate. Im Weitsprung und im Sprint erreichte ein einziger Junge bessere Ergebnisse als sie, ansonsten war sie besser als sämtliche Mädchen und sämtliche Jungen der Klasse.
 
Dasselbe Mädchen aber hält ansonsten, im anderen Unterricht, sehr wenig von sich und hadert oft mit sich selbst. Soll man ihr nun die Möglichkeit für ein außergewöhnliches Erfolgserlebnis nehmen, nur weil andere frustriert waren, dass sie – vielleicht ausnahmsweise mal – auf hinteren Plätzen gelandet sind?

Grenzüberschreitungen und Verlustängste Aber auch den eigenen Kindern gegenüber finde ich die Petition von Finke falsch. Lernen ist nun einmal ein Überschreiten bisheriger Grenzen. Es ist naheliegend, dass das manchmal schmerzhaft, anstrengend, sogar angsteinflößend sein kann. Aber – es kann eben deshalb auch mit enorm intensiven positiven Erfahrungen verbunden sein.

Das ist, nebenbei bemerkt, in meinen Augen ein weiterer Grund, weshalb Schule oft so langweilig ist: Viele, von den Schulbüchern bis zu den Lehrkräften, vermeiden Risiken und versuchen vor allem, nicht anzuecken. Das aber ist eine Haltung, die regelrecht lernfeindlich ist.

Es ist für Kinder und Jugendliche, und auch noch für Erwachsene, ungeheuer wichtig, die Erfahrung zu machen, dass sie die eigenen Grenzen überschreiten können – dass sie z.B. etwas schaffen können, was sie sich nicht zugetraut hätten. Der Sport ist für solche  Erfahrungen besonders günstig.
 
Ich hab vor einer Weile einmal bei einem 100-Kilometer-Trail mitgemacht. Das war ausgesprochen gaga, und ich hatte hinterher ca. eine Woche lang Muskelkater. Aber es war auch sehr gut zu merken, dass ich so etwas kann.
 
Natürlich können Grenzüberschreitungen auch misslingen, schmerzhaft sein – und bei Kindern ist es natürlich Aufgabe der Erwachsenen, darauf zu achten, dass sie sich nicht in unnötig große und ernsthaft gefährliche Risiken begeben. Aber Kindern und Jugendlichen solche Erfahrungen ganz zu verweigern, weil sie ja unangenehm und verletzend sein können – das nimmt ihnen sehr viel, und sehr viel Wichtiges.

Ich habe dabei unwillkürlich einen Verdacht, der möglicherweise ungerecht ist, aber trotzdem nahe liegt. Wenn Eltern dafür sorgen, dass Kinder ihre Grenzen nicht überschreiten, dann ist das auch Verlustängsten der Eltern selbst geschuldet. Denn eine der wichtigsten Grenzen, die ihre Kinder überschreiten müssen, ist ja die aus der Familie heraus, weg von den Eltern.

Auch hier sind es also möglicherweise die eigenen Schmerzen, die Eltern fürchten – nicht die der Kinder.

Warum das alles nicht im Rahmen eines Wettbewerbs geschehen soll, verstehe auch ich nicht. Auch Notengebung und Notenspiegel haben eben, so Robin, an sich schon einen Wettkampfcharakter, und in anderem Unterricht ist die Teilnahme ebenfalls nicht freiwillig.

Es kann dann möglicherweise sogar erleichternd sein, Wettkämpfe zwischendurch einmal etwas spielerischer und sportiver auszutragen. Wichtig ist eben nur, diese Wettbewerbe nicht so auszuwählen, dass immer dieselben verlieren.

Es gibt daher schon viele unterschiedliche Wettbewerbe für die Schulen. Es gibt Schreibwettbewerbe, es gibt Lesewettbewerbe im Fach Deutsch und in den Fremdsprachen, große Englisch-Wettbewerbe, Mathe-Wettbewerbe, naturwissenschaftliche Wettbewerbe, es gibt bundesweite Preise für gesellschaftswissenschaftliche Projekte, etc. Warum wird es plötzlich zum Problem, wenn es auch einmal im Jahr einen sportlichen Wettbewerb gibt – wenn es zwischendurch auch einmal darum geht, den Körper zu bewegen, anstatt ihn stillzustellen?

Möglicherweise kennt Christine Finke die anderen Wettbewerbe nicht, weil es die an der Schule ihrer Kinder nicht gibt. Dann kann sie sich, zum Beispiel, engagiert dafür einsetzen, dass sie dort eingeführt werden. Das wäre ganz gewiss sinnvoller, als sportliche Wettkämpfe abzuschaffen.

Es würde allerdings ganz gewiss auch keine solch extreme Resonanz in den Massenmedien haben wie die Petition gegen die Bundesjugendspiele. Aber möglicherweise fände sich ohnehin das eine oder andere Problem, über das dort stattdessen diskutiert werden könnte.


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