…und Freiheit braucht Menschen, die lernen.
Sieben Thesen zur Meinungsfreiheit an den Universitäten. Und ein Zitat.
Von irritierten „Nordamerikanistik-Studierenden der HU Berlin“ berichtet die taz am 6. Oktober dieses Jahres. Eva Boesenberg, Professorin für Nordamerikanische Literatur- und Kulturgeschichte, hatte in einem Seminar auch das Theaterstück The Emperor Jones des amerikanischen Literatur-Nobelpreisträgers Eugene O’Neill auf die Leseliste gesetzt. Allein in der Eröffnungsszene käme dort, so hat die taz nachgezählt, 19 Mal das Wort „Nigger“ vor. Ein Stück aus dem Jahr 1920 –
„Doch eignet es sich heute für ein Seminar, in dem auch People of Color sitzen? ‚Für eine chinesische Studentin war das nicht auszuhalten’, erinnert sich Eva Boesenberg.“
Sie werde daher das Stück nicht wieder in einem Seminar behandeln.
Dass O’Neill prekäre Verhältnisse erlebt hat, jahrelang als Seemann arbeitete, im pazifistischen Flügel der Arbeiterbewegung engagiert war und dass seine Entwicklungsgeschichte hin zum Literaturnobelpreisträger ganz außergewöhnlich war – dass er als Dramatiker eine besondere Bedeutung für afro-amerikanische Schauspieler hatte – dass er eben über den Gebrauch des Wortes „Nigger“ schon eine Auseinandersetzung mit dem ersten Schauspieler der Hauptrolle hatte und ihm eben dieser Begriff wichtig war, um die Entfremdung Schwarzer in Amerika vorzuführen: Damit müssen sich Boesenbergs Studenten dann zukünftig nicht mehr beschäftigen.
Ebenfalls an der Humboldt-Universität richteten im vergangenen Jahr Studenten ein Blog ein, in dem sie über die Vorlesung des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler berichteten und ihrem Professor, unter anderem, einen „militärischen Sprechduktus“ und „koloniale Praxen“ vorhielten. Der Zeit erklärte Münkler, dass er gern mit den Blog-Betreibern reden würde,
„aber die schlagen aus dem Off zu. ‚Asymmetrische Kriegsführung’ nennt Münkler dieses Vorgehen.“
Damit ist eine Bewegung von nordamerikanischen und britischen Universitäten auch an deutschen Universitäten angekommen, in der sich politisches Engagement mit enormer Sensibilität für Gruppen verbindet, die als marginalisiert oder als unterdrückt wahrgenommen werden: für Schwarze, für Frauen, für Transsexuelle.
Der weltweit anerkannte Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, der seit Jahrzehnten an der Stanford-Universität lehrt, hat vor einer Weile in der Neuen Zürcher Zeitung von einer persönlichen Erfahrung damit berichtet. Ihm sei aufgefallen, dass er von der Universität keine Funktionen mehr zugeteilt bekommen habe, „die mit der Betreuung von jungen Kollegen und Doktoranden zu tun haben“. Erst auf Nachfrage bei der Dekanin habe er den Grund erfahren, nämlich seinen „Hang zu frauenfeindlichen Äusserungen“. Er erfährt zudem,
„dass der Stein des Anstosses ein im öffentlichen Rahmen gefallener Satz war, in dem ich meine eigene und die Tochter eines Kollegen als Beispiele für sehr gutes Aussehen (‚looking gorgeous’) angeführt hatte.“
Das sei sicher nicht verletzend gemeint gewesen, so die Dekanin, da sich aber eben nicht alle Frauen als gutaussehend wahrnehmen, hätten einige das als aggressiv wahrnehmen können.
In diesem Sinne arbeiten amerikanische Universitäten dann, so der lange Zeit-Artikel weiter, routiniert mit Triggerwarnungen, die vor verstörenden Inhalten in Büchern warnen – z.B. vor Kants Kritik der reinen Vernunft.
Die Warnung des Verlags vor diesem Buch spricht übrigens nicht direkt die Leser, sondern Eltern an – sie sollten mit ihren Kindern darüber sprechen, dass sich seit der Zeit Kants „die Sicht auf Themen wie Rasse, Geschlechterrolle, Sexualität, Ethnizität und interpersonelle Beziehungen verändert“ habe. Da Kinder ihre ersten Leseerfahrungen gemeinhin nicht mit Kants Kritik der reinen Vernunft machen, sind in diesem Beispiel offenbar die Eltern von Studenten angesprochen, und es sind eben diese Studenten, die dabei als schutz- und aufklärungsbedürftige Kinder dastehen.
So werden ihnen an Universitäten dann auch Safe Spaces geschaffen, sichere Plätzen, in denen sie vor Zumutungen provozierender Positionen sicher sind. Auch vor provozierenden Rednern und Rednerinnen werden sie geschützt – etwa vor einer transsexuellen Aktivistin, die an der Brown-Universität ausgeladen wurde, weil sie von einer jüdischen Gruppe eingeladen worden war. Das nämlich würde das Leid der Palästinenser unsichtbar machen.
Am Londoner Goldsmith Institut wiederum, auch das berichtet die Zeit, sei eine iranische Menschenrechtlerin gezwungen worden, „ihren Vortrag zu unterbrechen, weil der muslimische Studenten verletze.“
Zur dieser Kultur einer modischen Verachtung der Meinungsfreiheit sieben Thesen und ein Zitat:
1. Wer beständig Herrschaftsverhalten enttarnt, zerstört Kommunikation
Gumbrecht schreibt überraschend aggressionsfrei und reflektiert über seine Ausbootung, die ihm nicht einmal offiziell erklärt worden war. Er betont „dass diese College-Studenten mit ihren so unendlich verschiedenen Herkunftsmilieus in einem Ton miteinander umgehen, der ohne persönliche Verletzungen auskommt.“
Ihre hohe Sensibilität auch für ungewollt-verletzende „Mikro-Aggressionen“, für unterschwellig-ausgrenzendes Herrschaftsverhalten sei eine Bedingung dafür, dass Menschen aus ganz unterschiedlichen Kontexten gut zusammenleben könnten.
Allerdings bedeutet eine hohe Sensibilität für Herrschaftsverhalten ja nicht, dass umgekehrt alles Herrschaftsverhalten wäre, was Sensibilitäten verletzt. Etikettierungen und Normierungen erfüllen in Institutionen, und nicht nur dort, pragmatische Funktionen. Es sind notwendige Hilfsmittel, um Erfahrungen zu strukturieren. Was aber ein Mensch auf der Basis seiner Erfahrungen tut oder sagt, kann für ihn selbst ganz unverdächtig sein, für einen Menschen aus einem anderen Kontext aber verletzend oder provozierend.
Die Kommunikation wird notwendig einseitig und asymmetrisch, wenn die Aufmerksamkeit für solche Sensibilitäten und Verletzungen wie in Gumbrechts Beispiel nicht ausbalanciert wird durch die Unterstellung eines kommunikativen Wohlwollens – wenn also das Gefühl des Verletztseins zählt, nicht aber die Annahme, dass Menschen in aller Regel keine Verletzungsabsicht haben.
2. Wer Verletzbarkeit sakralisiert, beschreibt Herrschaft grob und holzschnitthaft
„Sie geben allein den Gefühlen derer Relevanz, die sich verletzt fühlen.“ So Gumbrecht. Das aber ist nicht realisierbar – denn schließlich kann dieselbe Handlung, die einen Menschen vor Verletzungen schützen soll, selbst wiederum einen anderen Menschen verletzen. Wer – wie das etwa auch der DGB in Deutschland schon getan hat – mit Rücksicht auf muslimische Sensibilitäten eine Rednerin auslädt, weil sie sich für Interessen Israels eingesetzt hat, wird damit zugleich Juden verletzen.
Eine Fixierung auf Sensibilitäten passt nicht in eine demokratische Kultur, in der sich in öffentlichen Räumen verschiedene Menschen mit verschiedenen, jeweils mehr oder weniger legitimen Interessen verständigen, als prinzipiell gleichberechtigte Akteure. Denn in einer solchen Kultur wird die Relevanz von Verletzungen nicht durch diejenigen entschieden, die sich verletzt fühlen – sondern alle Beteiligten müssen sich anhand allgemeiner Regeln verständigen, welche Verletzungen bedeutsam und welche zumutbar seien.
Die Fixierung auf das Verletzungsgefühl braucht statt dessen klare Einteilungen, wessen Verletzungsgefühle ernst zu nehmen seien – die der „Marginalisierten“ – und wessen Verletzungen vernachlässigt werden können – die der „Privilegierten“. Eine große Sensibilität für subtile Herrschaftsmechanismen des Alltags verbindet sich so mit einer bemerkenswert groben, holzschnitthaften Vorstellung von Herrschaft: Weiße beherrschten Schwarze, Männer beherrschten Frauen, Heterosexuelle beherrschten Homosexuelle, Cis-Sexuelle beherrschten Transsexuelle.
3. Wer das Opfer sakralisiert, landet im Biologismus
Dass diese Herrschaftskonzeptionen weithin biologistisch sind, steht offenkundig im Widerspruch zu der Vorstellung, Geschlecht, Rasse und anderes seien „soziale Konstruktionen“. Die biologistische Orientierung ergibt sich daraus, dass die Selbstbeschreibung des Opfers gar nicht mehr zum Gegenstand der Kommunikation und schon gar nicht in Frage gestellt wird, sondern aller Kommunikation immer schon zu Grunde liegt.
Das dreht sich erkennbar im Kreis: Ein Mensch ist Opfer, weil er verletzt wurde – und seine Verletzung ist eben deshalb relevant, weil er Opfer ist. Dieses Modell lässt gar keine Diskussion über seinen Status mehr zu – stattdessen muss vor jeder Kommunikation immer schon eine Entscheidung gefallen sein, wer als Opfer zu betrachten ist und wer nicht. Diese Entscheidung wiederum braucht Kriterien, die in aller Regel ohne weitere Verständigung anwendbar sind. Dazu gehört dann vor allem die Hautfarbe oder das Geschlecht eines Menschen, aber – bezeichnenderweise – eben nicht seine soziale Herkunft, die ihm ja nicht immer schon fraglos anzusehen ist.
Die Sakralisierung des Opfers gehört grundsätzlich eben nicht in eine moderne oder gar progressive Politik, sondern in archaische Kulte.
4. Wer sich auf Gruppendenken fixiert, beschädigt Individuen und Gemeinwohl gleichermaßen
Auch wichtige politische Ziele werden durch die notwendige Einteilung von Menschen in Herrscher und Beherrschte beschädigt. Die Kritik daran, dass das wichtigste Stipendium der Oxford University nach dem Imperialisten und Sklavenhalter Cecil Rhodes benannt ist, finde ich beispielsweise völlig berechtigt. The Empire Writes Back: Dieses an Star Wars angelehnten Schlagwort bezeichnet eine schon jahrzehntelange Bewegung, mit der Autoren aus den ehemaligen britischen Kolonien im englischen Sprachraum ihre eigene Perspektiven geltend machen – und das stellt natürlich auch Selbstverständlichkeiten der britischen Kultur und Geschichte in Frage.
Solche wichtigen inhaltlichen Ziele aber werden beschädigt durch eine Form der Auseinandersetzung, die Rederecht und Relevanz von Menschen anhand ihrer Gruppenzugehörigkeit zuteilt. Das entwertet Menschen einerseits als Individuen, da sie ja nur alle Mitglieder einer Gruppe relevant sind oder nicht – andererseits verhindert es die Orientierung an einem alle gemeinsamen Wohl.
Wer lernt und sich entwickelt, macht die Erfahrung, dass die eigene Perspektive durch die anderer nicht nur provoziert und in Frage gestellt, sondern auch bereichert und ergänzt werden kann. Voraussetzung dafür ist die Annahme einer gemeinsamen Wirklichkeit, die unabhängig von allen einzelnen Perspektiven existiert, vor deren Horizont aber diese Perspektiven koordiniert werden können.
Ethisch und politisch entspricht dem die Vorstellung eines Gemeinwohls, in dessen Rahmen unterschiedliche Interessen vermittelt werden können. An die Stelle dieser Vermittlung, die wesentlich von den Bürgern selbst geleistet werden muss, tritt in einer Kultur des Opfers und der Verletzlichkeiten die Politik eines starken, wohlwollenden Staates. Gut ist nämlich nun nicht mehr die Vermittlung unterschiedlicher Interessen – gut ist das, was bestimmte marginalisierte Gruppen vertreten. Der Staat hat hier die Aufgabe, als Super-Akteur für die Interessen derjenigen einzustehen, die in einer zu schwachen Position sind, um sie allein durchzusetzen.
Die Frage, warum ausgerechnet die wichtigste Institution der Gesellschaft verlässlich auf der Seite der Schwächsten stehen sollte, wird dabei gar nicht erst gestellt.
5. Es geht „Social Justice Warriors“ nicht um soziale Gerechtigkeit (und sie sind auch keine Krieger)
Diese autoritäre Ausrichtung einer linken Politik dient dann eher auch bestehenden Interessen, als dass sie die Sache Marginalisierter vertreten würde. Wer es etwa aus sogenannten bildungsfernen Schichten an die Universität schafft, wird dort heute nicht mehr allein durch die Gepflogenheiten eines akademischen Habitus und Sprachgebrauchs ausgegrenzt – sondern auch durch die für Laien unüberschaubaren Feinheiten einer geschlechtergerechten Sprache und durch Regeln einer politischen Korrektheit, die nach außen hin unverständlich und absurd wirken können.
So wird diese linke Bewegung dann auch eher von Angst getrieben als von der Hoffnung auf eine bessere, gerechter Zukunft. Es ist eine Bewegung der moralisierenden Abschottung gegen eine als überfordernd und bedrohlich wirkende Welt, bei der dann die Menschen, die nicht dazugehören, draußen bleiben. Es ist eine Abschottung vom Pöbel, die wohl befeuert wird durch die Abstiegsängste einer – noch – solventen oberen Mittelschicht.
Es ist daher auch falsch, die Aktivisten als „Social Justice Warriors“ zu bezeichnen – auch wenn diese Bezeichnung ironisch gemeint ist. Es geht ihnen nicht um soziale Gerechtigkeit, sondern um die Interessen ausgewählter Gruppen. Eine Kriegerethik zudem mag Rohheiten und Gewalttätigkeiten gegen andere begünstigen – aber sie legitimiert diese Gewalt zumindest nicht auch noch mit Hinweisen auf die Hypersensibilität der Krieger.
6. Angst verhindert Lernen. Und wer Lernen verhindert, produziert Angst.
Was aber von Angst befeuert wird, produziert neue Angst und zerstört Freiheit. Wer jedoch lernt und sich entwickelt, braucht eben gerade diese Freiheit – und die Bereitschaft zur Weiterentwicklung ist zugleich die Bedingung für sie. Etwas Neues zu lernen, bedeutet immer, das Gewohnte, Bekannte und Verlässliche neu zu strukturieren. Das kann schmerzhaft sein, verunsichernd, frustrierend – aber in der Erfahrung, dass es die eigenen Möglichkeiten erweitert, auch beglückend und befriedigend.
Wer also das Verstörende, Irritierende, Beängstigende, auch Enragierende aus dem Weg räumt – der sorgt dafür, dass Menschen nicht mehr lernen können. Damit schafft Angst Bedingungen, die wiederum Angst schaffen. Wer Menschen die Irritation des Lernens erspart und sie stattdessen dafür belohnt, die eigenen Empfindlichkeiten auszustellen – der nimmt ihnen eben die so wichtige Erfahrung, sich auf immer wieder neue Situationen sinnvoll einstellen und an ihnen wachsen zu können.
Da aber die Wirklichkeit niemals clean sein, da sie immer neue Irritationen und Provokationen heranschaffen wird – daher gibt es auch immer wieder Gründe für Ängste, die doch angeblich so gut begründet sind und so wichtig genommen werden müssen. Die Fixierung auf Verletzbarkeiten, die Hypersensibilitäten belohnt und Menschen keine Robustheit abverlangt, ist auch eine Erziehung in die Angststörung hinein.
7. Wölfe sind keine geeigneten Hoffnungsträger für Schafe
Statt vor einem offenen Horizont, den die Freiheit braucht, die eigene Möglichkeiten zu erweitern, rufen Menschen dann nach starken Autoritären, die es ihnen ersparen, mit Irritationen konfrontiert zu werden.
Vermutlich überträgt diese Bewegung die Erfahrung des Internets, seiner Filterblasen und Blocklisten, in die Welt außerhalb des Netzes, in der eben jeder störende Mensch durch Filter und Blockademanöver aus dem Blickfeld geräumt werden kann. In der realen Welt außerhalb des Netzes aber reicht es nicht, Menschen nur virtuell zum Verschwinden zu bringen.
Die Ausgrenzung störender Inhalte ist so auch unweigerlich verknüpft mit der Ausgrenzung von Menschen – die Verweigerung des Lernens ist auch die Weigerung, die Welt aus neuen, ungewohnten Perspektiven zu betrachten. So idealistisch die neue soziale Bewegung an den Universitäten auch sein mag, in ihrer autoritären Ausrichtung ist sie auch eine Bewegung von Schafen, die nach dem Wolf rufen – in der Hoffnung, dass er ihnen die anderen, bösen Schafe vom Hals schaffen möge.
Ohne Widerstand gegen sie hat diese Bewegung das Potenzial, sich zu einem Faschismus der Riechsalzfläschchen auszuwachsen.
8. Wenn der König nackt ist, müssen wir das auch sagen, oder: Es lohnt sich, Camus zu lesen
Dass es keine Gerechtigkeit ohne Freiheit und keine Freiheit ohne Gerechtigkeit geben kann, hat schon in den Fünfziger Jahren der französische Literaturnobelpreisträger Albert Camus betont. In seinem Interview zur Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, Sozialismus der Galgen, drückt er eine Kritik aus, die heute wieder überraschend gültig ist. Camus fordert von linken Intellektuellen, zu denen er sich selbst zählt, ihre eigenen Ideologien „einer kritischen Prüfung“ zu unterziehen und sich nicht unkritisch mit linker Politik gemein zu machen.
„Der Konformismus findet sich heutzutage bei der Linken, das lässt sich nun einmal nicht abstreiten. Es stimmt, dass die Rechte nicht eben ein leuchtendes Vorbild gibt. Aber die Linke ist ausgesprochen dekadent, gefangen in Worten, nur noch stereotyper Antworten fähig, sie klebt auf der Leimrute der Formeln und versagt unablässig angesichts der Wahrheit, von der sie doch ihre Gesetze herzuleiten behauptet. Die Linke ist schizophren und muss Heilung suchen – in unerbittlicher Kritik, Übung des Herzens, Festigung der Überlegung, und auch in ein wenig Bescheidenheit. Solange diese Revisionsarbeit nicht auf breiter Basis begonnen hat, ist jeder Zusammenschluss schädlich. Bis dahin hat der Intellektuelle die Pflicht zu sagen, dass der König nackt ist, wenn er es tatsächlich ist, und sich nicht in begeisterten Beschreibungen seiner eingebildeten Gewänder zu ergehen.“
Camus allerdings war Algerien-Franzose, damit im Verständnis heutiger Riechsalzfläschchen-Linker ein Repräsentant imperialistischer Politik und also ein Mensch, der Marginalisierten zuhören sollte, anstatt sich selbst im Diskurs breitzumachen. Dass seine Geschichte – vom Jungen, der ohne Vater und mit einer analphabetischen, tauben Mutter in einem Armenviertel von Algier aufwächst, zum Literaturnobelpreisträger – eine der erstaunlichsten Entwicklungsgeschichten des 20. Jahrhunderts ist, verschwände in diesen moralisierenden Klischees ebenso wie die Tatsache, dass er als Linker für eine linke Selbstkritik stand, die auch heute noch, und wieder, dringend nötig wäre.
Albert Camus: Der Sozialismus der Galgen, in: ders., Verteidigung der Freiheit. Politische Essays, Reinbek 2016, S. 114-120, hier S. 119
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