Schon zu Beginn des Films blamiert sich der vierzehnjährige Maik Klingenberg (Tristan Göbel) nachhaltig, ohne recht zu verstehen, wodurch eigentlich. Für den Deutschunterricht an seinem Gymnasium in Berlin-Marzahn hat er eine Routine-Hausaufgabe mit ausufernder Ausführlichkeit gemacht und einen trockenen, unfreiwillig komischen Text über den Alkoholismus seiner Mutter geschrieben.
Er steht vor der Klasse, trägt vor – und als er endlich unterbrochen wird und der Lehrer ihn fragt, wie viele Seiten der Text noch habe, zählt Maik nach und stellt zum Entsetzen aller anderen Anwesenden fest, dass es noch etwa sechs eng beschriebene DIN-A-4-Seiten bis zum Ende sind. Der Lehrer bricht den Vortrag ab und versichert Maik nach der Stunde, dies sei der abstoßendste Text seiner ganzen Lehrerkarriere gewesen.
Einerseits ist das Mitteilungsbedürfnis von Maik gigantisch und so uferlos, dass andere davor in Deckung gehen. Andererseits resultiert deren Eindruck, der Junge würde mit einer ganz unpassenden Komik über den Alkoholismus seiner Mutter schreiben, aus einem Missverständnis.
Maik selbst nimmt seine familiäre Situation als ganz normal wahr und schreibt entsprechend lakonisch darüber, wie seine Mutter selbst in schwer angetrunkenem Zustand ein Tennis-Match gewinnt, hinterher offen im Tennisclub erzählt, nun für einige Wochen in eine Beauty-Farm zu gehen, und dies gleich selbst als Chiffre für eine ihrer regelmäßigen Entziehungskuren auflöst. Ganz selbstverständlich erscheint es Maik auch, dass er auf seine Mutter aufpasst und für sie sorgt – nicht umgekehrt.
Natürlich bleibt der Platz neben Maik leer – neben diesem Psycho möchte keiner aus der Klasse sitzen. Die Handlung des Films beginnt dann damit, dass dieser Platz doch besetzt wird. Der Lehrer führt einen neuen Mitschüler in die Klasse, einen mongolisch aussehenden Jungen (Anand Batbileg) mit seltsamem Haarschnitt und schräg-prolliger Kleidung, dessen Namen er kaum aussprechen kann. „Andrej Tschichatschoff“, korrigiert der Junge, der offenkundig angetrunken neben dem Lehrer steht und kaum seine Augen offen halten kann. Schließlich sitzt dann der Asi neben dem Psycho, und Maik rückt von ihm und seiner Alkoholfahne weg, so weit wie möglich an den Rand des Tisches.
Fatih Akin hat die Geschichte dieser beiden Außenseiter nach dem gleichnamigen und auch als Schullektüre erfolgreichen Kult-Roman Wolfgang Herrndorfs verfilmt. Der Film ist – wie im Roman schon angelegt – ein klassisches Road-Movie mit Wurzeln bis hin zu Mark Twains Huckleberry Finn. Zugleich ist er auch eine Bestandsaufnahme der Situation vieler Jugendlicher im heutigen Deutschland, und er ist damit auf den zweiten Blick viel beunruhigender, als es in seiner gelösten, oft komischen Atmosphäre auf den ersten Blick erscheint.
Übertrieben geil! – Eine Reise in die deutsche Provinz
Noch ein zweites Ereignis bringt die Handlung in Gang. Maiks Mitschülerin und heimliche Liebe Tatjana (Anya Wendel) veranstaltet zum Ende des Schuljahrs eine große Geburtstagsfeier und lädt ihre ganze Klasse ein. Maik überlegt lange, was er ihr schenken könnte, und fertigt dann in tagelanger Arbeit eine große, sehr gekonnte und liebevolle Bleichstiftzeichnung von ihr an. Erst als die Zeichnung fertig ist, erfährt er beiläufig, dass er nicht eingeladen ist – als einziger in der Klasse, neben Andrej, genannt Tschick.
Der – mathematisch hochbegabt und ansonsten schwer verwahrlost – ist mittlerweile auf Maik aufmerksam geworden. Maik trägt nämlich eine Jacke mit einer großen Drachen-Applikation, die in Tschicks Augen „übertrieben geil“ ist – angesichts seines eigenen Kleidungsstils ein eher zweifelhaftes Lob. Als Maik am letzten Schultag und kurz vor Tatjanas Feier traurig und allein bei sich zuhause im Swimmingpool liegt, besucht ihn Tschick. Er hat sich einen Lada geklaut („geliehen“) und möchte Maik mit zu Tatjanas Feier nehmen.
Dort haben dann beide einen eindrucksvollen Auftritt: Tschick ist überraschend gut gekleidet, Maik hat sein Bild dabei, dass er der verdutzten Tatjana souverän überreicht. Natürlich gehen sie sehr bald wieder, weil sie natürlich anderes zu tun haben, und vor den Augen der Feiernden lässt Tschick den Lada mit Bremse und Gaspedal ein paar beeindruckende Runden um sich selbst drehen. „Das klappt nicht immer! Das klappt nicht immer!“, ruft er ebenso stolz wie cool, als beide losfahren.
Dass Maik nun einfach mit Tschick weiter fahren kann, liegt auch daran, dass seine Eltern anderweitig beschäftigt sind. Seine Mutter ist bei ihrem turnusmäßigen Alkoholentzug, und sein Vater hat die Gelegenheit genutzt, um mit seiner jungen Geliebten in den Urlaub zu fahren. Tschick möchte in die Walachei, zu seinem Großvater – und er lässt sich davon auch nicht durch Maiks Belehrungen abhalten, dass es die Walachei doch gar nicht gäbe, sondern dass ihr Name einfach eine Bezeichnung für einen Landstrich am Ende der Welt sei.
Natürlich kommen sie nie an, auch wenn Maik mit diesen Erläuterungen daneben liegt. Sie haben nicht einmal eine Karte dabei („Landkarten sind für Muschis“ – dieser Spruch von Tschick ist auch einer der Werbesprüche des Films), und sie müssen auch erst einmal herausfinden, wie sie ihr geklautes Auto neu betanken können, ohne Geld zu bezahlen („Wir können doch nicht jedes Mal ein neues Auto klauen, wenn der Tank alle ist.“).
Als sie auf einer Müllhalde nach einem Schlauch für den Benzindiebstahl suchen, treffen sie die verwahrloste Isa (Mercedes Müller), die eine Weile mit ihnen mitfährt. Mit ihr erlebt Maik seinen ersten Kuss, mit panischer Schüchternheit – dass sie sogar mit ihm schlafen wollte, hatte ihn zuvor sprachlos gemacht.
Isa aber verlässt die beiden wieder, weil sie auf dem Weg zu ihrer Schwester in Prag und sicher ist, dass sie mit Tschick und Maik gemeinsam nie dort ankommen würde. Sogar die junge Landstreicherin ist zielstrebiger und weniger perspektivlos als Maik und Tschick, und sie merkt, dass sie sich von ihnen trennen muss, wenn sie irgendwo einmal ein Ziel erreichen möchte.
Die ihrerseits ziellose Reise der beiden Jungen endet schließlich in einer Kollision mit einem Schweinetransporter – das zeigt auch schon der Beginn des Films. Maik ist verletzt, Tschick aber geht, als er ihn versorgt weiß.
In der folgenden Gerichtsverhandlung widersetzt sich Maik dem Willen seines Vaters (Uwe Bohm), der ihn auffordert, alle Schuld für den Diebstahl des Autos und für den Unfall auf Tschick zu schieben. Maik sagt vor Gericht wahrheitsgemäß aus und akzeptiert seinen Teil der Schuld – noch auf dem Gerichtsgelände schlägt der Vater ihn dafür bewusstlos.
Ohne Sinn! – Vital und perspektivlos
Dieser Vater ist – neben dem autoritären und empathiebefreiten Lehrer – die einzige ganz klischeehafte Figur des Films: Ein gescheiterter Immobilienmakler, der mit seiner Familie in einem repräsentativen Haus lebt, das eigentlich längst nur noch der Bank gehört – trotz oder gerade wegen seines eigenen Scheiterns ein Besserwisser – ein Mann in der Midlife-Crisis, der eine deutlich jüngere Geliebte hat – und, selbstverständlich, gewalttätig.
Dass die Mutter neben diesem eindeutig negativ gezeichneten Vater wie eine positive Figur wirkt, ist trügerisch. Maik übernimmt stillschweigend die Verantwortung für sie – kümmert sich um sie, wenn sie sich angetrunken öffentlich unmöglich macht – und er achtet darauf, ob sie abends überhaupt nach Hause findet. Eines Nachts fährt er beunruhigt mit dem Fahrrad los, weil sie nicht daheim ist, und findet die Mutter, die am Tisch eines längst geschlossenen Cafés eingeschlafen ist. Als er sie mit dem Rad nach Hause bringt, schmiegt sie sich an ihn wie an einen Geliebten, und Maik – der sonst nirgendwo Zuwendung findet – lächelt glücklich.
Als „Parentifizierung“ bezeichnen Familientherapeuten eine solche Konstellation, in der Eltern sich in die Rolle von Kindern begeben und ihren Kindern die elterliche Verantwortung zuschieben. Am Ende des Films hat sich die Mutter nach dessen Gewaltausbruch offenbar von Maiks Vater getrennt, schmeißt angetrunken Möbelstücke in den Swimmingpool des Hauses, und Maik macht freudig mit. Schließlich schwimmen beide einträchtig im Wasser. Im Trailer zum Film wird eben diese Szene direkt vor die Kussszene zwischen Maik und Isa geschnitten, so dass der Eindruck noch verstärkt wird, die Mutter sei eine Geliebte Maiks.
Dass dieses mütterliche Verhalten, wie die Gewalt des Vaters, für den Jungen schädigend ist, wird im Film nirgendwo deutlich. Das allerdings hat mit seiner Perspektive zu tun. Wenke Husman beschreibt in der Zeit eine Szene, in der Tschick und Maik mit dem Wagen durch ein Maisfeld fahren, als
„programmatisch für Akins Film: Die Kamera nimmt die Perspektive der Protagonisten hinter der Windschutzscheibe ein. Die Maiskolben klatschen ihnen entgegen, bis keine Orientierung mehr möglich ist.“
Dass Maik – ebenso wie Tschick – ganz auf seine eigene Perspektive zurückgeworfen ist, gehört nicht nur zur Erzählperspektive des Films, sondern ist vor allem bezeichnend für die soziale Situationen der Jungen. Nirgendwo ist ihnen gegenüber ein Erwachsener wohlwollend und aufmerksam. Es ist schlicht niemand da, der Maik auf die Idee bringen könnte, die faktisch ausbeutende mütterliche Zuwendung sei nicht in seinem Interesse – oder der sich dafür interessieren würde, dass Tschicks Alkoholismus dem Jungen natürlich schadet.
Wenn überhaupt einmal ein Erwachsener etwas von der Situation der Jungen bemerkt, dann reagiert er massiv abwertend und abwehrend, wie der Lehrer zu Beginn des Films. Nur ganz am Ende nimmt der Film eine Wendung, die so positiv ist, dass sie zum Rest des Films nicht passt: Verständnisvolle Richter sprechen Maik frei, und Tatjana hat endlich Interesse an Maik – der sich zwar darüber freut, endlich wahrgenommen zu werden, der aber nun nichts mehr von ihr wissen möchte.
Der Film nimmt zuvor deswegen programmatisch die Perspektive der Jungen ein, weil ihnen außer ihrer eigenen Perspektive gar nichts anderes bleibt. Aus dieser Isolation gewinnt die Handlung ihre Plausibilität. Die Fahrt, kreuz und quer durch die deutsche Provinz, ist keine Flucht vor der Erwachsenenwelt, kein Statement – sondern ein Ausdruck der Vitalität beider Jungen angesichts ihrer vollkommenen, aber auch vollkommen selbstverständlich hingenommenen Perspektivlosigkeit. „Ohne Sinn!“, eine der Lieblingsfloskeln Tschicks, ist zugleich auch ein Motto des Films.
Am Ende des Films schickt Tschick Maik noch einen Gruß, den nur der verstehen kann. Er schreibt ihm nicht etwa einen Brief, sondern klaut noch einen Lada uns setzt ihn an eine Wand. Ein Auto ist für die Jungen, ganz natürlich, kein Mittel, um irgendwohin zu kommen, sondern etwas, womit man eben irgendwann an irgendeiner Wand landet. Die einzige Perspektive, die beide haben, ist – darin füreinander einzustehen.
Noch einmal in fünfzig Jahren – Macht Desinteresse frei?
Wer als Zuschauer aber nicht die angebotene Perspektive der Jungen übernimmt, sondern ihre Geschichte als Erwachsener sieht, müsste eigentlich beunruhigt sein darüber, wie stimmig und bruchlos diese Geschichte heute erzählt werden kann. Dass Huckleberry Finn als verwahrloster Junge in den ländlichen USA des 19. Jahrhunderts auf sich allein gestellt war, ist ja noch ganz nachvollziehbar – aber dass zwei Jungen mitten im heutigen, rundum institutionalisierten und weiträumig pädagogisierten Deutschland ebenso allein gelassen sind, ist ein bitterer Kommentar zum Zustand des Landes.
Mit zwei Heldinnen hätte diese Geschichte zudem wohl nicht funktioniert. Dies schon allein deshalb, weil sie dann unwillkürlich viel zu sehr mit Bedeutung aufgeladen worden wäre: als Geschichte eines jugendlich-weiblichen Ausbruchs aus der männlich dominierten Welt, als Geschichte eines Empowerments, als jugendliche Version von Thelma und Louise in der ostdeutschen Provinz.
Das bedeutet nicht, dass es Mädchen heute rundweg besser hätten als Jungen. Erwachsene, die sich als Missy, als Alphamädchen oder als Teil einer Mädchenmannschaft wahrhehmen, okkupieren weibliche Kinder und Jugendliche mit ihren eigenen, erwachsenen und durchaus narzisstischen Phantasien von Rebellentum, Widerstand und besserem Menschsein. Damit aber hätten zwei Mädchen als Heldinnen des Films einen Resonanzraum in der Erwachsenenwelt, der zwei Jungen fehlt – und erst dadurch, dass er fehlt, wird die Lakonie möglich, mit der die Geschichte dieser perspektivlosen Jungen als vitale und immer auch komische Geschichte erzählt werden kann. Ohne Sinn.
Dabei hatten Akin oder Herrndorf gewiss nicht vor, Jungenpolitik zu betreiben. Sie haben nur offenkundig ein gutes Gespür für stimmige Geschichten – und stimmig bleibt diese Geschichte eben mit zwei männlichen Jugendlichen. Der Film erzählt nirgendwo davon, wie es dazu kommt, dass die Jungen in der Wahrnehmung der Erwachsenen faktisch nirgendwo mehr auftauchen, und das muss er auch nicht. Er muss es aber unwillkürlich als bekannt und vertraut voraussetzen.
Das lässt sich unschwer ausbuchstabieren. Vater und Lehrer im Film, so klischeehaft die Figuren auch sein mögen, repräsentieren eine eher konservative, autoritäre Männlichkeit, in deren Kosmos es klassischerweise als Verzärtelung erscheint, empathisch auf die Nöte von Jungen zu reagieren. Die deutlichen schulischen Nachteile von Jungen beispielsweise sind nicht nur kein Thema in der Bildungs- und Schulpolitik, sie sind es auch kaum einmal in der Schulpädagogik. Mehr noch: Wenn sich Wissenschaftler überhaupt einmal mit diesen spezifischen Problemen beschäftigen, dann in der Regel mit dem Ziel, die Jungen selbst zur Ursache der Schwierigkeiten zu erklären. Die Schule ist schon richtig, nur die Jungen sind falsch.
Nur: Diese Beiträge kommen auch und gerade von Männern, die sich selbst keineswegs als konservativ und autoritär, sondern als offen und progressiv verstehen. So fehlt es Jungen dann auf allen Seiten des politischen Spektrums an möglichen Bündnispartnern oder Fürsprechern.
Jürgen Trittin beispielsweise, eigentlich ein erwachsener Mann, hatte diese Probleme im Bundestag bekanntlich zum Anlass genommen, darüber zu witzeln, dass Mädchen nun einmal das begabtere Geschlecht seien.
Seine Partei ist sogar ein besonders gutes, auch bitteres Beispiel für ein Desinteresse Erwachsener, weil sich an ihr zeigt, wie bruchlos sich dieses Desinteresse mit dem Selbstbild verbinden lässt, für eine bessere, humanere Politik zu stehen. Erwachsene haben – nicht allein hier, aber hier auch – das Wohl der Kinder so wenig im Blick, dass sie nicht einmal mehr merken, wie wenig es ihnen bedeutet.
So hatte der Bericht der Berliner Grünen über die jahrelangen sexuellen Übergriffe auf Kinder und Jugendliche im Umfeld und mit Unterstützung der Partei auch ein Nebenresultat, das kaum beachtet wurde: Diese sexuelle Gewalt war für die Partei eben auch deshalb lange kein Thema, weil die betroffenen Kinder und Jugendlichen weit überwiegend männlich waren.
Wenn zudem, wie vor einigen Monaten, ein grüner Funktionsträger Männer rundweg als potenzielle Vergewaltiger hinstellt, dann widerspricht überhaupt niemand in der Partei und kaum jemand außerhalb von ihr. Niemand stellt auch nur die Frage, welche Konsequenzen die öffentliche Kriminalisierung ihres ganzen Geschlechts eigentlich für das Selbstbild männlicher Kinder und Jugendlicher hat.
Maik und Tschick allerdings können, weil sie vital darauf reagieren, dieses radikale und umfassende Desinteresse der Erwachsenenwelt an ihrem Wohlergehen als Möglichkeit zur Freiheit nutzen. Es ist nur eben eine Freiheit, die nirgendwo hinführt – ein Ausbruch, der seinen Wert ganz in sich selbst hat, der aber keine neuen Möglichkeiten schafft. Der Film endet daher, sehr stimmig, mit einem Rückblick, einer kurzen Passage, die Maik verspätet erzählt.
Isa, Tschick und er sitzen dort im Harz auf einem Hügel, schauen in die Landschaft, und Maik macht den Vorschlag, dass sich alle drei in genau fünfzig Jahren noch einmal an genau dieser Stelle treffen sollten.
Dass fünfzig Jahre später noch einmal alles genau so sein könnte wie nun, in genau diesem Moment, und alle drei noch einmal zusammenkommen: Das ist die einzige echte Perspektive für sein Leben, die sich dieser vierzehnjährige Junge vorstellen kann, und seine einzige Hoffnung.
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