Vom Verschwinden der demokratischen Linken
tl; dr: Ich habe mich in letzter Zeit, und sogar erfolgreich, darum bemüht, meine Texte hier kürzer zu halten. Mit dem folgenden Text ist mir das nicht gelungen – was aber auch am Thema liegt. Ich versuche darin, abweichend von den fast automatisierten Schuldzuweisungen an „weiße Männer“ Gründe für den Wahlsieg von Donald Trump zu beschreiben, die auch für Deutschland wichtig sein könnten.
Kurz: Trumps Wahlsieg interpretiere ich hier auch als Reaktion darauf, dass es keine demokratische Linke mehr gibt und dass sich die in Parteien organisierte Linke zu einem Instrument eben der sozialen Spaltungen gewandelt hat, die sie eigentlich einmal überwinden wollte.
„Die Rache der weißen Männer“ (Tagesspiegel) – „Der Mann der weißen Männer“ (Süddeutsche Zeitung) – „Alte weiße Männer wählten Donald Trump zum US-Präsidenten“ (Express) – „Wütende weiße Männer“ (Der Spiegel) – „Weiße Männer sind das Problem“ (Alice Schwarzer bei Maischberger, einen Gorilla nachahmend, der „den Mann an sich“ darstellen sollte): Deutschen und anderen Medien fiel es leicht, den Wahlsieg Donald Trumps zu erklären. Er habe rassistische und sexistische Hintergründe, sei ein Aufstand der Männer gegen die Frauen und der Weißen gegen die Schwarzen und Latinos.
Wer etwas genauer hinschaut, kann bei dieser Einschätzung kaum bleiben. Trump hat bei Weißen weniger Stimmen geholt als Mitt Romney, der vorherige republikanische Kandidat – aber mehr Stimmen als Romney bei den „people of color“.

Was immer auch geschieht – wir können uns darauf verlassen, dass DER SPIEGEL die Situation mit Ruhe, Augenmaß und der nötigen Gelassenheit analysieren wird. Das ist sehr beruhigend.
Wenn die Republikaner mit Trump trotzdem gerade in einigen weitgehend von Weißen bewohnten Bezirken ihr Ergebnis deutlich verbessern konnten, dann liegt dies also offenbar daran, dass viele ehemalige weiße Wähler der Demokraten Clinton nicht gewählt haben. Das aber ist ja eben gerade nicht rassistisch: Denn schließlich haben diese Wähler, und zum guten Teil begeistert, für einen schwarzen Präsidenten gestimmt – nun aber nicht für eine weiße Kandidatin.
Bleibt also die Frauenfeindlichkeit – denn tatsächlich hat Clinton gegenüber Obama offenbar bei weißen Männern Stimmen verloren, nicht bei weißen Frauen. Allerdings stimmten immer noch 55% der weißen Frauen für Trump, insgesamt betrug Clintons Vorsprung bei Frauen 54-44: Ein sehr guter Wert, der aber trotzdem keineswegs dafür spricht, dass Frauen Trump rundweg als frauenfeindlich wahrgenommen hätten.
Tatsächlich ist es müßig zu spekulieren, welche rachsüchtigen, ressentimentgeladenen und rückständigen Wählergruppen denn nun dringend für den Sieg von Trump verantwortlich zu machen wären. Er hat nämlich weniger Stimmen geholt als sein Vorgänger Romney und auch etwas weniger als sein Vor-Vorgänger John McCain. Gewonnen hat er trotzdem, weil Hillary Clinton noch deutlich stärker einbrach: Sie holte knapp zehn Millionen Stimmen weniger als Obama bei seiner ersten und immer noch knapp 5 Millionen Stimmen weniger als bei seiner zweiten Wahl.
Der Grund für Trumps Sieg ist also keineswegs, dass er besonders viele Menschen auf besondere Weise begeistert und mobilisiert hätte – sondern dass die demokratische Kandidatin und ihre Partei auf eine wohl historische Weise versagt haben. Kurz: Nicht Trump hat die Wahl gewonnen, sondern Clinton hat sie verloren.
Die Wählerbeschimpfung – weiß! männlich! alt! ungebildet! – verdeckt diese Fehlleistung. Dabei ist es wichtig, sie zu analysieren, denn die Gründe für sie sind auch für die deutsche Politik sehr interessant.
Ein Korb voller Erbärmlichkeit und eine Abrissbirne
„Change“ und „Yes, we can!“: Diese Slogans aus Obamas Wahlkampf im Jahre 2008, der ihn zum Präsidenten machte, fingen einen breit gestreuten Wunsch nach Veränderung ein – nach einer Veränderung nämlich, mit der die Menschen wieder handlungsmächtig wären, die sich offensichtlich zunehmend nur noch als Objekte abstrakter, von ihnen nicht mehr fassbarer Strukturen ansahen.
Den Republikanern fiel als Reaktion auf den Präsidenten Obama lediglich ein, ihre Position im Kongress zur Blockade seiner Präsidentschaft zu benutzen. Das heißt: Den Wunsch nach Veränderung beantworteten sie mit einem erzwungenen Stillstand, den Wunsch nach Handlungsmacht mit der Herstellung von Ohnmacht. Sie kamen aber nicht einmal auf die Idee, eigene Konzepte zu entwickeln, um den weit verbreiteten, aber auch diffusen Wunsch nach politischer Veränderung selbst repräsentieren zu können.
So konnte Trump, der sich als Anti-Establishment-Kandidat inszenierte, in den Vorwahlen dann leicht die Riege der Kandidaten abräumen, die für das Establishment ihrer Partei standen und die eben deshalb wie erstarrte Pappkameraden wirkten.
Die demokratische Partei wiederum setzte in einer Situation, die offenkundig noch immer von einem großen Bedürfnis nach grundlegenden Veränderungen geprägt war, ausgerechnet auf eine Kandidatin, die das Politik-Establishment verkörpert wie keine andere.
Nicht nur ihre Verwurzelung und umfassende Vernetzung im nationalen Politkbetrieb, auch verhängnisvolle persönliche Eigenschaften machten Clinton für Trump zu einer idealen Projektionsfläche von Anti-Establishment-Ressentiments: Ihre abgehobene Unehrlichkeit in der Emailaffäre und ihren Reaktionen darauf, mit der sie den Eindruck erweckte, anderen Menschen nicht einmal die Einhaltung basaler gemeinsamer Regeln schuldig zu sein – der Eindruck der Korruptheit angesichts dubioser Zahlungen an die Clinton-Stiftung – und vor allem ihre herablassende Feindseligkeit gegen Menschen, die eine andere Sicht auf die Welt haben als sie.

Ein Cartoon von einer Clinton-freundlichen Seite.
Als „basket of deplorables“, Korb der Erbärmlichen, bezeichnete sie Anhänger Trumps und stellte sie so als erbärmlichen Ausschuss hin, mit dem eine neue, schönere Gesellschaft nicht zu gestalten wäre. Es half auch nicht, dass Clinton diese Entgleisung später bedauerte: Sie bedauerte ja nicht, weil sie plötzlich ihren Respekt für die Beschimpften entdeckt, sondern weil sie gemerkt hatte, dass ihr diese offene Verachtung selbst schadete.
Das Partei-Establishment wiederum schätzte offenbar die bloße Tatsache, dass Clinton eine Frau ist, schon als ausreichendes Signal des Wandels ein – eine Fehleinschätzung, weil diese Tatsache außerhalb kleiner Filterbubbles relativ irrelevant ist. Nicht an Frauenfeindlichkeit ist Clinton gescheitert, sondern daran, dass ihre Geschlechtszugehörigkeit weithin unwichtiger war, als ihre Partei es kalkulierte.
Mit Bernie Sanders hatten die Demokraten einen Kandidaten, der – gerade weil viele seiner Positionen naiv und nicht zynisch wirkten – das Bedürfnis nach politischer Veränderung einfing und der die Basis der Partei so in Bewegung versetzte wie Trump die Basis der politischen Rechten. Ausgerechnet von der demokratischen Partei wurde Sanders, irregulär, zu Gunsten Clintons ausgegrenzt und benachteiligt. Einerseits entfremdete die Partei sich damit gerade von den besonders aktiven und begeisterten Teilen ihrer Basis, andererseits spitzte sie das Bild Clintons als abgehobener, korrupter und überheblicher Kandidatin des Establishments pointiert zu.
Dass Trump unberechenbar, rücksichtslos, unendlich narzisstisch, egoman und primitiv ist, werden vermutlich auch viele seiner Anhänger kaum bestreiten. Die breite Blockade-Front aus republikanischem UND demokratischem Partei-Establishment erweckte aber den Anschein, dass es gerade einer solchen wandelnden Abriss-Birne bedürfe, um überhaupt etwas zu ändern. Den Anschein, dass zivil und abgewogen agierende Akteure so enden würden wie Sanders, der nach seiner demütigenden Ausbootung durch die demokratische Partei auch noch solidarisch eben diese Partei und die Kandidatin Clinton öffentlich unterstützte.
Mindestens zwei Schlüsse lassen sich daraus ziehen, die auch für Deutschland wichtig sind:
Ein Bedürfnis nach Veränderung verschwindet nicht einfach irgendwann wieder, wenn es blockiert wird, sondern es kehrt zurück auf eine wildere, ungeschlachtere Weise, in der sich die Rücksichtslosigkeit spiegelt, mit der es zuvor blockiert worden war. Trump oder die AfD sind der Preis für die Blockade offener, ziviler demokratischer Auseinandersetzungen.
Die Veränderungsimpulse in der heutigen Politik kommen nicht von rechts – es gibt nur in der etablierten politischen Linken niemanden, der sie aufgreift.
In Deutschland ist die Situation ansonsten noch anders. Die letzten Landtagswahlen jedenfalls bestätigten allesamt, und mehrmals in überraschendem Ausmaß, die Amtsinhaber. Veränderungswünsche sind auch hier unübersehbar, sonst gäbe es keine AfD. Noch aber steht nicht der Wille im Vordergrund, eine als korrupt und abgehoben empfundene politisch-ökonomisch-publizistische Klasse abzulösen, sondern ganz im Gegenteil der Wille, die politisch Verantwortlichen auch auf die Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu verpflichten. Wenn wir das schaffen sollen, müsst auch Ihr Eure Arbeit erledigen.
Im Unterschied zur USA haben deutsche Akteure in Politik und Medien also – noch – die Zeit, das Drängen nach Veränderung und nach Öffnung politischer Debatten selbst aufzugreifen. Doch leider haben gerade eben die Parteien damit besondere Schwierigkeiten, die sich selbst als „progressiv“ verstehen, zu deren Selbstverständnis es gehört, das Bedürfnis nach Veränderungen ernst zu nehmen und selbst zu artikulieren: Die linken Parteien nämlich. Warum eigentlich?
Weltweit in der Echokammer
Der Blogger und Journalist Michael Seemann, der auch schon für die Friedrich-Ebert-Stiftung als Referent für Hatespeech gesprochen hat, beschreibt auf seinem Blog eine neue, linke „globale Klasse“, die „(ö)kologische, antirassitische, antisexistische Standards“ setze und sich von den „kulturell Abgehängten“ distanziere:
„Irgendwann begann sich der progressivere Teil des Bürgertums sozial enger mit seinesgleichen über Ländergrenzen hinweg zu vernetzen und kulturell zu orientieren.“
Entstanden sei eine „globalisierte Klasse der Informationsarbeiter“, welche die Globalisierung zu „ihrer Produktivkraft“ gemacht hätten.
„Informationsarbeiter“, Globalisierung als „Produktivkraft“: Die ungenaue Redeweise kaschiert wesentliche Probleme dieser Selbstbeschreibung. Ein Tweet schafft keinen Mehrwert, auch dann nicht, wenn er 30.000mal geliked wird. Dasselbe gilt für einen Blogartikel oder einen Vortrag bei einer steuerfinanzierten Stiftung. Natürlich macht auch die Verfassung solcher Texte Arbeit – aber in einem ökonomischen, gar in einem marxistischen Sinn ist es eine ganz andere Arbeit als etwa die eines Menschen, der bei einem Autozulieferbetrieb Karosserieteile herstellt.
Die „Informationsarbeiter“ sind sozial gesponsored. So sinnvoll, legitim und für alle Seiten nutzbringend das sein mag – diesen Zusammenhang zu ignorieren, legt eine Basis für soziale Spaltungen. Seemanns Informationsarbeiter kann den Eindruck gewinnen, auf die Angehörigen der „abgehängten Klasse“ eigentlich gut verzichten zu können – Debatten über soziale Gerechtigkeit also nicht mehr in der politischen Ordnung führen zu müssen, in der er lebt, sondern sie jederzeit durch Chats mit Buddies in New York, London oder Tokio ersetzen zu können.
So schwindet gemeinsam mit dem Sinn dafür, dass die eigene Existenzgrundlage durch die Arbeit anderer geschaffen wird, auch der Sinn für eigene Privilegien – und politische Konflikte erscheinen als Ausdruck kultureller Differenzen, nicht als Resultate ökonomischer Ungerechtigkeiten.
Wer die Welt wesentlich als sprachlich verfasste Angelegenheit wahrnimmt und beispielsweise glaubt, Ungerechtigkeiten ließen sich durch die richtigen Endungen von Wörtern aus der Welt schaffen, der kaschiert damit auch, wie sehr diese in akademischen Milieus wurzelnde Haltung durch die Arbeit anderer ermöglicht wird. Wenn diese anderen sich schließlich wieder bemerkbar machen, können sie als reaktionär und anti-emanzipatorisch einsortiert und dann mit gutem Gewissen ignoriert werden.
Der Begriff der Emanzipation, der eigentlich für die Befreiung und soziale Inklusion Ausgeschlossener steht, wird zu einem Instrument der Exklusion und der sozialen Spaltung.
Die Fixierung darauf, dass sich Trump-Unterstützer an den traditionellen Massenmedien vorbei in sozialen Netzwerken gefunden hätten, kaschiert zugleich, wie sehr auch die Wahrnehmung dieser postmodernen Linken mittlerweile durch die Netz-Erfahrung geprägt wird. Besonders deutlich wird dies an Universitäten, die von Trump-Anhängern leicht als Horte einer irrationalen und abgehobenen Kultur des Establishments hinzustellen waren.
Die Erfahrung, im Netz störende Meinungen muten oder blockieren zu können und dann nicht mehr damit behelligt zu werden, übersetzt sich in Redeverbote an Universitäten. Netztypische Shitstorms werden zu Kampagnen gegen ungeliebte Redner oder Dozenten. Die Erfahrung von Menschen, jederzeit selbst im Netz ansteuern zu können, was sie lesen und was nicht, befeuert das Verlangen nach Triggerwarnungen und gesäuberten Curricula. Die Erfahrung, von verstörenden Informationen auf einer Website unmittelbar zu einer beruhigenden, vertrauten anderen Website wechseln zu können, lässt sogar die kindische Forderung nach Safe Spaces in Universitäten als plausibel erscheinen.
Trump inszeniert sich als ein Teil der Wirklichkeit, die diese Mauern der Ignoranz wieder durchbricht. „The forgotten men and women of our country will be forgotten no longer“ war ein zentraler Satz aus seiner Siegesrede.
Anstatt also die Bedingtheit der eigenen Möglichkeiten und ihre Abhängigkeit von den Leistungen anderer zu reflektieren, anstatt die Echokammern und Spiegelkabinette ihrer Debatten in Relation zu einer Welt außerhalb zu setzen, erwarten postmoderne Linke, dass diese Welt sich an die Struktur ihrer Echokammern angleichen müsste. Wie lässt sich das auf Dauer legitimieren? Wie verträgt sich die Blindheit für soziale Herrschaftsstrukturen und die eigene Beteiligung daran mit dem obsessiven Einsatz für Marginalisierte, für Unterdrückte, für unsichtbar Gemachte?
Von der Brauchbarkeit der Unterdrückten und der Marginalisierten
Wer unterdrückt und marginalisiert ist, kann als rein erscheinen, als unberührt von der Korruptheit der Machtstrukturen, die ihn ausschließen. Das Engagament für die Unterdrückten wird so befeuert von einem stillschweigenden Glauben an die besseren, weniger korrupten Menschen – seien es nun Frauen, People of Color, Homosexuelle oder Transsexuelle. Ihre Unterdrückung erklärt dabei zugleich jederzeit, warum sich das von ihnen repräsentierte bessere Menschsein sozial nicht deutlicher auswirkt – es wird eben marginalisiert und unsichtbar gemacht.
So können dann Vertreter einer postmodernen Linken den Eindruck gewinnen, in ihren Spiegelkabinetten, Filterblasen und Echokammern würde ein besseres, eigentlicheres Leben repräsentiert – während die Welt da draußen, geprägt von inhumanen Machtstrukturen, irgendwie falsch sei. Die Fixierung auf immer kleinere, aber eben auch reine und unschuldige marginalisierte Gruppen erlaubt es, die unendlichen Spiegelungen in den begrenzten eigenen Diskursen als eigentlich real, die Welt außerhalb von ihnen als irreal zu erleben.
Das ist eben der Mechanismus, der ausgerechnet die Berufung auf Emanzipation zu einem Instrument der sozialen Spaltung macht. Gut im Sinne einer demokratischen Linken sind eigentlich nicht bestimmte Gruppen von Menschen, sondern reichere, offenere, vielfältigere Beziehungen zwischen Menschen, die allen Beteiligten größere Möglichkeiten sinnvollen Handelns schaffen. Die postmoderne Linke aber kappt soziale Beziehungen, weil die politisch Guten natürlich geschützt werden müssen vor denen, die ihnen Böses wollen.
Politische Debatten werden eingedampft auf die primitivste nur mögliche Formel, auf die Auseinandersetzung zwischen Liebe (repräsentiert durch uns) und Hass (repräsentiert durch die anderen). Love Trumps Hate. In der Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse verschwindet ein Gefühl für gemeinsame Grenzen – beide Seiten können sich jeweils darauf berufen, es mit einem rücksichtslosen Gegner zu tun zu haben, und eigene Grenzverletzungen als bloße Gegenwehr interpretieren.
Wer so in zementierten Frontstellungen denkt, verliert zudem die Fähigkeit zu rationalen politischer Analysen und zum demokratischen Diskurs. Nach Trumps Wahlsieg betonten einige Kommentatoren, Politiker hätten „die Sorgen vieler US-Bürger nicht ernst genug genommen“. Nun hat es allerdings wenig Sinn, wenn Politiker oder Journalisten weiter machen wie bisher und sich lediglich ab und zu, wenn sich Wähler oder Leser bei ihnen melden, im therapeutischen Zuhören üben.
Die Sorgen von Menschen ernst zu nehmen setzt voraus, zu akzeptieren, dass sich diese Sorgen auf eine gemeinsame, reale Welt beziehen. Sie ernst zu nehmen bedeutet, Bedingungen dieser realen Welt sinnvoll zu verändern.
Wer beispielsweise nicht verstehen kann, warum eine Mehrheit weißer Frauen für Trump stimmte, hat vermutlich einfach die eigene Filterblase betoniert und fensterlos gestaltet. Ein Geschlechterkampf hat nur in eng begrenzten feministischen Kontexten einen Sinn – außerhalb davon aber wenig Bedeutung. Die meisten Menschen leben in Situationen, in denen das, was für Männer schlecht ist, auch für Frauen schlecht ist – und umgekehrt.
Es ist rätselhaft, dass die Situation für Schwesig rätselhaft bleibt. Die Armut in den USA ist zu einem großen Teil weiß. Trump wurde wesentlich von einer weißen Mittelschicht gewählt, die sich vom Abstieg bedroht sieht. Natürlich ist weißen Frauen wiederum bewusst, dass nicht nur ihre Männer, sondern auch sie selbst und ihre ganzen Familien leiden, wenn der Mann arbeitslos wird und die Familie nicht mehr finanziell versorgen kann.
Trump hat diesen Menschen das Versprechen gemacht, Arbeitsplätze zu schaffen. Linke hingegen erläutern ihnen, ihre Probleme würden vor allem darauf beruhten, dass sie falschen und antiquierten Familienkonzepten nachhängen würden. Ist es wirklich so unverständlich, dass diese Frauen lieber Trump als Clinton gewählt haben?
Schwesigs Partei hat einmal eine wesentliche Funktion für die Demokratie in Deutschland erfüllt: Sie hat diejenigen Menschen, die sich mit guten Gründen als Opfer und Betrogene der Gesellschaft betrachten konnten, in eben diese Gesellschaft integriert – indem sie ihnen Perspektiven der Veränderung bot. Heute gibt es keine demokratische Linke mehr, die diese Funktion erfüllen würde.
Ausgerechnet die Gruppen, die sich einmal mehr als alle anderen für eine demokratische Integration verantwortlich fühlten, haben sich zu Instrumenten sozialer Spaltungen entwickelt. Ausgerechnet die politischen Gruppen, die traditionell gesellschaftliche Änderungsimpulse in den politischen Diskurs einschleusten und die reale Änderungen forcierten, blockieren heute offene Diskurse.
Der enorme Erfolg Trumps und die noch mäßigen Erfolge der AfD, die sich jeweils von weit rechts aus als Bewahrer der Demokratie gegen ein erstarrtes Establishment inszenieren, sind eine Konsequenz dieser Entwicklung.
Ich halte Trump für faschistoid, aber auch für unberechenbar – und so hoffe ich, dass ich mich in meinen Befürchtungen angesichts seiner Präsidentschaft täusche. Wer aber über Trumps Sieg wütend ist und diese Wut dann auf „weiße ungebildete Männer“ schmeißt, der repräsentiert und reproduziert damit eben die sozialen Spaltungen, die Trumps Präsidentschaft überhaupt erst ermöglicht haben.
Wesentlich angemessener ist es, wütend zu sein auf das gigantische Versagen Hillary Clintons und ihrer Partei.
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